Von Sönke Paulsen
Wo in Deutschland gibt es die meisten Land-Rover? Gemeint sind die echten, mit denen man eigentlich durch die Wüste fährt oder wenigstens abseits der Straßen unterwegs ist: Kantige Form und mehrere Klappspaten an Bord, damit man sich im Notfall freischaufeln kann?
Es ist ruhig hier in Hamburg-Blankenese. Der Vorort hat eine lange Tradition im Ruhigsein, weit über einhundert Jahre, als sich hier manche Kapitäne ihre Häuschen bauten. Immer schön am Hang, verbunden durch ein Labyrinth von Treppen.
Dahinter fangen die großen Villen an, die meist einsam daliegen und bei der früh einsetzenden Dunkelheit zu dieser Jahreszeit kaum erleuchtet sind. Manche dieser Häuser sind so groß, dass sie eigentlich nur von Präsidenten mit großer Equipage bewohnt werden können. Alles andere wäre zutiefst unlogisch! Vermutlich aber sitzt dort nur ein reicher Rentner oder gar niemand, weil der Besitzer noch ein Haus in Florida hat, wo es jetzt wärmer ist.
Auf den Straßen herrscht, wie gesagt, Ruhe. Nur von Zeit zu Zeit das kräftige Horn eines Containerschiffs, das den Vorort passiert. Groß und mächtig, aber von außen ebenso unbelebt wirkend, wie die vielen Villen, die hier stehen.
Eigentlich rechnet man hier mit Luxuslimousinen, aber die sind in der Minderzahl. An jeder Ecke aber steht ein Land-Rover-Defender, Klappspaten inklusive, in der Einfahrt.
Es wirkt so, als wollte der gesamte Vorort demnächst zu einer Expedition aufbrechen. Vielleicht alle gemeinsam, in einer Wagenkolonne, die dann wohl einige Kilometer lang wäre. Wohin, das wissen wohl nur die sorgsam versteckten Anwohner.
An diesem stillen Oktobertag regnet das bunte Herbstlaub langsam auf die Straßen, was der „Ausgestorbenheit“ hier fast etwas Romantisches gibt. Während ich alle hundert Meter an einem dieser Geländewagen vorbeigehe, frage ich mich, wie viele davon wohl noch in den Garagen stehen. Ich setze mich auf eine Bank und warte, ob vielleicht eine Schar von Gärtnern gleich von den Grundstücken kommt, diese Fahrzeuge besteigt und davonfährt. Aber nichts passiert.
Ein etwas beklemmendes Gefühl von Endzeit beschleicht mich. Offensichtlich rechnet man in diesem noblen Vorort schon damit, dass es in Kürze keine befahrbaren Straßen mehr geben wird. Je länger ich mich damit beschäftige, desto mehr von diesen Vehikeln fallen mir auf. „Das sind doch reiche Leute“, denke ich, „die wissen doch, was kommt!“
Ein paar Kilometer weiter nach Osten, ein linkes Stadtviertel, was man an den verschmierten Wänden, dem Dreck auf den Bürgersteigen und Antifa-Plakaten erkennt, die überall angeklebt wurden. Hier ist es voll, man sieht keinen einzigen Defender (zu Deutsch Verteidiger) und die „Coloured People“ nehmen deutlich zu. Irgendwie wirkt beides, der Vorort und der linke Stadtteil gleichermaßen unwirklich. Der Vorort, weil er so leer wirkt, und der linke Stadtteil, weil man Mühe hat, jemanden auszumachen, der vielleicht noch arbeiten geht und nicht von staatlicher Unterstützung lebt. Gefühlt sind hier alle Sozialhilfeempfänger, die auf das bedingungslose Grundeinkommen warten.
Gibt es zwischen diesen beiden Extremen, die hier direkt aneinandergrenzen, überhaupt noch ein reales Deutschland? Alte Geldsäcke und junge Schmarotzer jeder Couleur – und dazwischen?
Ich fahre noch weiter nach Osten, in den Stadtteil Barmbek. Hier sind die Straßen ebenfalls voll und die Leute, die hier herumlaufen, scheinen auch zu arbeiten. Man sieht es daran, dass sie an diesem Freitag arbeitsfähig gekleidet sind, was in Deutschland meist bedeutet, dass man saubere Klamotten anhat, welcher Art auch immer. Außerdem wirken die überwiegend jüngeren Leute hektisch mit Einkäufen für das Wochenende beschäftigt. Viele fahren Fahrrad oder gehen zu Fuß, manche nutzen ihr Auto. Wie auch immer man diesen Stadtteil bewerten möchte, herrscht hier doch eine Betriebsamkeit, die auf Arbeit hinweist und nicht auf „Stütze“.
„Es gibt also noch Leute, die arbeiten“, denke ich in meinem leicht verwirrten Hirn. Der Ausflug nach Blankenese hat mir wohl nicht gutgetan. Es gibt zwar viele Millionäre in Deutschland, aber die wohnen offensichtlich nur selten in ihren Villen und haben Fluchtfahrzeuge vor der Tür stehen. In Barmbek dagegen traue ich mich das erste Mal, von Normalität zu sprechen.
„Dieses Land muss mit Tempo modernisiert werden“, so ähnlich äußerte sich der Chefliberale Lindner zu Beginn der Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen. „Mit Tempo…“, damit meinte er doch wohl, dass etwas faul ist in unserem „besten Deutschland aller Zeiten“.
„Faul“ ist ein gutes Wort für meine Empfindungen an diesem Wochenende in Hamburg. Noch weiter östlich dringe ich in die Arbeitervororte vor, die jetzt vor allem mit kleinen Angestellten, Servicekräften aller Art und Arbeitern besiedelt sind. Dort herrscht emsige Betriebsamkeit. Die Leute schieben Einkaufswagen aus dem Aldi und drängeln sich bei Lidl, die U-Bahnen sind voll und es gibt jede Menge Bratwurststände, an einigen auch Menschenschlangen, die dort warten. Frauen mit Kinderwagen, eher weniger colorierte Mitbürger und insgesamt eine nüchterne Atmosphäre mit vielen müden Gesichtern, die tatsächlich nach viel Arbeit aussehen.
Wer sind eigentlich die Leistungsträger in unserer Gesellschaft?
Ich zünde mir eine Zigarette an und beobachte das Getriebe. „Ich will mich nicht schlagen lassen“, denke ich, „aber die Leute hier scheinen wirklich zu arbeiten.“ Ich versuche dabei eine Theorie zu begründen, die so lautet, dass die Menschen umso weniger arbeiten, je besser es ihnen finanziell geht, stoße dann aber auf diverse Widersprüche meiner Theorie und verwerfe sie wieder, bevor ich mich darin verheddere.
Barmbek ist immer noch ein relativ gut situiertes Viertel, und die Leute hier wirken deutlich entspannter, als die in den ganz östlichen Stadtteilen. Dort ist aber auch die Arbeitslosigkeit am höchsten. Im Servicebereich in den Geschäften wird schwer gespart. Man findet niemanden, der einem weiterhilft und die Kassen sind an diesem Freitagabend nur halb besetzt. Die Toiletten sind geschlossen oder wurden abgeschafft und die Preise ziehen deutlich an. Dennoch tummeln sich viele Menschen auf den Straßen, aber vor allem die Billig-Ketten haben Kunden.
Das Phänomen der Faulheit ist auch in der Innenstadt mit Händen zu greifen und zeigt sich auch daran, dass in den großen Kaufhäusern das Verkaufspersonal teilnahmslos und stark vereinzelt herumsteht.
Deutschland wirkt wie das Land ohne Motivation!
Bei Karstadt sagte es gestern ein Fleischverkäufer recht deutlich. „Leute“, rief er, „ich stehe hier ganz allein! Es findet sich keiner mehr, der hier Wurst verkaufen will und jetzt steht ihr hier alle rum und wollt was von mir. Ich hau‘ auch gleich ab, Rente kriege ich ja sowieso keine. Da kann ich gleich Stütze beantragen! Nach zweiundvierzig Jahren Arbeit“, ruft er den irritierten Kunden zu.
Das scheint so die Stimmung und die Motivationslage zu sein. Wer nicht ausgesorgt hat, ist besorgt, denkt aber nicht, dass er seine Probleme noch mit Arbeit lösen kann.
Die Erwerbsarbeit hat einen massiven Ansehensverlust erlitten. Sie wird so niedrig bewertet wie nie.
Offensichtlich gilt das von Arm bis Reich, wobei die Reichen vermutlich kurz vor dem Exodus stehen. Die „Defender“ stehen schon mal vor der Tür.
Man fragt sich angesichts der Hamburger Zustände, die man vielleicht etwas zu leicht für ganz Deutschland unterstellt, was unser Land eigentlich so kaputtgemacht hat. Warum sind wir ein so unmotivierter und unsolidarischer Sauhaufen geworden?
Hier in Hamburg kommt mir diese toxische Melange wie eine Mischung aus Turbokapitalismus und Spekulantentum mit linker „Leckmich-Mentalität“ vor. Beide Lebensauffassungen scheinen hegemonial zu sein. Wenn sich das bestätigt, haben wir derzeit die giftigste Regierung am Start, die das Land jemals gesehen hat. Eine neoliberale Partei (Turbos und Spekulanten) und zwei „Leckmich-Parteien“.
Kommt nicht auch unser Bundeskanzler in Spe aus dieser kaputten Stadt, in der sich alles ums Geld dreht und nichts um die Arbeit?
In Wandsbek treffe ich zufällig eine alte Freundin meiner Mutter. Sie ist extrem genervt. „Ich gehe jetzt in den Baumarkt“, schimpft sie, „weil ich keinen Handwerker bekomme, der mir meine Dusche neu abdichtet und den Abfluss im Waschbecken erneuert. Das alles, wo ich überhaupt kein handwerkliches Geschick habe.“
Ich drücke ihr mein Bedauern aus und will sie trösten, was gründlich danebengeht: „Wissen Sie, es gibt doch immer irgendwelche Leute, die man fragen kann. Vielleicht haben Sie sogar jemandem im Haus, der mit so etwas geschickt ist?“
„Wie bitte?“, antwortet sie, „das ist ja wie in der DDR. Ich muss jetzt jemanden kennen, der jemanden kennt, damit ich meinen Abfluss gemacht bekomme? Das ist ja die reinste Mangelwirtschaft. Hier läuft doch in letzter Zeit alles daneben!“
Ich bin ratlos und antworte, dass ich auch nicht weiß, warum man keine Handwerker mehr ins Haus bekommt. Es gibt doch jede Menge Klempner. Vielleicht liegt es daran, dass Privatkunden für Handwerker nicht mehr interessant sind. Die besseren Aufträge bieten Bauunternehmen und die öffentliche Hand. Es fällt zumindest auf, dass in vielen Branchen Handwerker auf B2B, also Businesskunden, umgestellt haben und B2C (Business für Privatkunden) für sie nicht mehr in Frage kommt. Das ist das Ergebnis einer funktionierenden Marktwirtschaft? Wer steuert hier überhaupt dagegen? Wohl niemand.
Auch traditionelle, handwerkliche Arbeit scheint sehr unattraktiv geworden zu sein.
Eigentlich reicht es mir und ich möchte schnell wieder nach Berlin, obwohl es da auch nicht besser ist.
Der Service-Rückfall bei der Deutschen Bahn
Die schnellste Verbindung bot traditionell die Bahn an. Die Strecke Hamburg-Berlin schaffte sie in eineinhalb bis zwei Stunden. Nun sind drei Stunden und mehr angesagt. Langsamer also als das Auto mit zügiger Fahrweise. Das liegt daran, dass drei weitere Haltestellen dazugekommen sind, weil immer weniger Menschen, die in den Ballungsgebieten arbeiten, dort eine Wohnung bekommen. Der Markt regelt das. Man sucht sich eine billige Wohnung in Stendal oder Uelzen und gibt das restliche Geld für den ICE aus.
Ich gebe allerdings für die teurer gewordene Strecke so viel aus wie noch nie und bekomme dafür einen Service präsentiert, der mich an uralte Bahnzeiten erinnert. Unfreundliche Zugchefs, die aggressive Durchsagen, was Maskenpflicht und Raucher angeht, durch den Zug jagen, aber nicht darüber informieren, dass der Bistrowagen ohne Essen ist und die Hälfte der Toiletten nicht funktioniert. Der Fahrgast fühlt sich zuletzt als Geisel, die für einen beschissenen Service zu zahlen hat, der inzwischen doppelt so lange ertragen werden muss, wie früher auf dieser Strecke. Über dreieinhalb Stunden von Hamburg nach Berlin mit dem schnellsten ICE. Das wird dann auch noch subventioniert!
Das Zugteam hängt lustlos im Bistrowagen ab, redet zu laut und ignoriert die Fahrgäste. Viel größer kann der Absturz im Servicebereich eigentlich nicht ausfallen.
Auch hier scheint die Erwerbsarbeit einen deutlichen Ansehensverlust zu erleiden und die Kunden sind wieder die „natürlichen Feinde“ des Zugpersonals, wie es vor der Ära der ICEs gewesen ist.
Der Markt scheint hier gar nichts zum Guten zu wenden. Der Markt regelt die Probleme nicht, er regelt sich derzeit selbst ab, nachdem ihm die Regierung eine Eisenkugel ans Bein gekettet hat.
Deutschland auf dem absteigenden Ast, die Bahn als Symbol. Wie könnte dieses deprimierende Wochenende passender enden als mit der Bahn?
Fazit
Ich bin froh, dass heute Nacht die Zeit zurückgestellt wird, weil ich erst so spät nach Hause gekommen bin. Aber wie weit müsste die Zeit in Wirklichkeit zurückgestellt werden, damit wir wieder an eine funktionierende Gesellschaft anknüpfen können, in der es sich einigermaßen leben lässt? Eine Stunde dürfte dafür wohl zu wenig sein!
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.
Bild: ShutterstockText: Gast