Kritischer Journalismus – hinter der Bezahlschranke Der Preis macht zunehmend den Unterschied.

Von Sönke Paulsen

Dinner im Kanzleramt – „Versuch einer Einflussnahme der Politik auf das Verfassungsgericht“ (Welt), „Eklige weiße Mehrheitsgesellschaft“ – Die Grüne Jugend und ihr Deutschlandbild (Welt), USA wollen Auslieferung des WikiLeaks-Gründers – Das Rachekomplott gegen Julian Assange (Spiegel).

„Ich erkenne Deutschland nicht wieder“. Druck auf Ungeimpfte, Furcht vor offenen Schulen, mediale Panikmache: Während die Menschen in Spanien, England oder Schweden fast wieder so leben wie vor der Pandemie, herrscht in Deutschland die „German Angst“. Wie konnte es nur dazu kommen? (Welt)

Man kann sagen, was man will. Es gibt kritische Artikel in den deutschen Mainstream-Medien. Die meisten allerdings hinter einer Bezahlschranke, wie die oben genannten Beispiele.

Kritischer Journalismus soll offensichtlich vom Leser bezahlt werden, unkritischen Verlautbarungs- und Haltungsjournalismus gibt es dagegen umsonst, wie es scheint.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Tendenz aber scheint bei Welt, Spiegel und Bild eindeutig: Was grundsätzliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen aufgreift und in die Mangel nimmt, verschwindet hinter der Bezahlschranke, zumindest in den Mainstream-Medien.

Dieses Vorgehen könnte Vorteile haben. So ist der Shitstorm hinter der Paywall meist weniger ausgeprägt und auch weniger wirkungsvoll. Denn die vielen Fliegen, die sich auf einen Artikel stürzen, zahlen in der Regel nicht. Für Trolle gilt das Gleiche. Man kann also verhältnismäßig ungeschoren veröffentlichen, wenn die Kritik nur deutlich und nicht extrem ausfällt. Dabei gibt es in diesen kritischen Artikeln genug Angriffe gegen die offizielle Meinungshegemonie, sei es zum Thema Corona-Maßnahmen, zur Deutschlandfeindlichkeit der Grünen oder zu dem Komplott gegen Julian Assange.

Einflussnahme, Filz und Unterlaufen rechtsstaatlicher Regeln, wie im Falle des Dinners im Kanzleramt, bei dem kräftig Druck auf das Verfassungsgericht gemacht wurde, scheint die Leser nicht mehr zu überraschen und wird inzwischen auch kostenlos in der Welt angeboten.
Fast hat es den Anschein, als würden heiße Eisen erst einmal in der Bezahlwelt des Journalismus getestet, bevor sie in die breite Öffentlichkeit lanciert werden. Aber es hat eben nur den Anschein.

Viel eher lässt sich folgende Theorie belegen: Verlautbarungsjournalismus ist billiger, muss nicht aufwendig geprüft werden und kann auch von wenig qualifiziertem Personal ins Netz gestellt werden. Kritischer Journalismus ist dagegen von der Recherche bis zur Prüfung aufwendiger und damit teurer.

Tatsächlich lässt sich beobachten, dass die ermüdenden Propaganda-Artikel in Welt, Bild und Spiegel, in FAZ, FR und SZ im Onlinebereich oft ähnlichen Wortlaut haben und sogar identisch sind. Damit ist dann klar, dass es sich um Artikel von Nachrichtenagenturen oder gar um Pressemitteilungen handelt, die unverändert nachgedruckt werden. Die gibt es umsonst, als Content für die Werbung, die werden gelesen und die prägen die Presselandschaft!

Sind die Leser daran schuld, weil sie nicht genug Geld für bezahlten Journalismus ausgeben?

Das ist die Frage.

Wenn es um Anzeigenkunden geht, wenn es darum geht, die Bundesregierung zufrieden zu stellen, wenn es also darum geht, die Öffentlichkeit möglichst seicht und spannungsfrei zu versorgen, kann kritischer Journalismus nicht wachsen – und von investigativem Journalismus braucht man hier gar nicht zu reden.

Beides muss wohl von den Lesern bezahlt werden, wie man auch an ausländischen kritischen Medien sieht.

Die russische Nowaja Gaseta, die überwiegend den dort tätigen Journalisten gehört und deren ehemaliger Chefredakteur Muratov nun den Friedensnobelpreis erhält, ist ein Beispiel für bezahlten, kritischen Journalismus. Aber auch diese Zeitung sollte in der Papierausgabe 2015 eingestellt werden, da die Auflagen sanken und es kaum Anzeigenkunden gab. Außerdem gab es keine staatlichen Subventionen wie bei den regierungsnahen Medien in Russland.

Dieses Dilemma einer kritischen russischen Zeitung kann man direkt auf die deutschen Medien übertragen. Auch hier sinkt der Anzeigenwert mit der kritischen Ausrichtung, sind öffentliche Gelder umso leichter zu bekommen, je näher man am Verlautbarungs- und Haltungsjournalismus orientiert ist (was ganz besonders für die „Öffentlich-Rechtlichen“ gilt).

Kritischer Journalismus ist dagegen ein Luxus, den sich Leser leisten!

Das schlägt allerdings auf die Hegemonie, für die man sehr, sehr viele Leser braucht.

Die Nowaja Gaseta ist daher dazu übergangen, große Teile ihrer Inhalte in der Online-Ausgabe kostenlos zur Verfügung zu stellen. Spiegel und Co machen das auch, nur eben nicht mit den gleichen Inhalten.

Kostenlos gibt es bei Spiegel Online meist nur die für den Mainstream geframte Faktenlage. Hintergründe, die recherchiert und durchdacht sind, was man als Voraussetzung für kritischen Journalismus ansehen muss, findet man dort nicht.

Es gibt also zwei Leserwelten, die mit verschiedenen Nutellas gefüttert werden. Die zahlenden Leser bekommen das echte Nutella, während die Gratisleser vor allem durch den, allgemein bekannten, Verlautbarungs-Kakao gezogen werden.

Der Preis macht zunehmend den Unterschied.

Wie auch immer. Der Trend zur Kritik hinter der Paywall nimmt zu. Vielleicht versucht man damit einen Teil der kritischen Leser, die in die Community-Media abgewandert sind, wieder zurückzuholen?

Viele Community-Medien haben inzwischen den Part des kritischen Journalismus übernommen und decken dabei breite Felder ab, vom Meinungsjournalismus bis hin zu echten investigativen Seiten. Die meisten dieser Medien fahren eine Mischung aus allem und sind in ihrer kritischen Ausrichtung natürlich an die eigene Community gebunden.

Dennoch, Kritik kann es nie genug geben. Es wäre zu wünschen, dass auch die Mainstream-Medien wieder kritischer werden – wenn eben auch nur gegen Cash.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt auch in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“. Hier finden Sie seine Fortsetzungsgeschichte „Angriff auf die Welt“ – der „wahre“ Bond.

Bild:
Text: Gast

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