Von Gregor Amelung
20 Tage nach dem Fall von Kabul informierte das ARD-Studio Washington seine Leser und Zuschauer unter dem Titel „Bidens Gegner nutzen Afghanistan-Chaos aus“ wie folgt: „Donald Trump hätte alles besser gemacht. Das zumindest ist die Botschaft, die Donald Trump verbreitet.“
Tage später setzte einen eine Analyse beim Nachrichtensender n-tv (17.09.) davon in Kenntnis, dass Biden alleine schon als Berufspolitiker „viel leichter kritisierbar“ sei als sein Vorgänger. Dass Joe Biden als Vize-Präsident in der Obama-Administration acht Jahre lang für den Krieg in Afghanistan mitverantwortlich gezeichnet hatte, war damit geglättet.
„Bidens bittere Erbschaft“
Der Demokrat, hieß es weiter, habe am Hindukusch ohnehin „nur schlechte Optionen“ vorgefunden, was der Spiegel (17.08.) „Bidens bittere Erbschaft“ nannte, die Süddeutsche (15.08.) und der Focus (01.09.) eine „außen- und sicherheitspolitische Erbschaft“, die „Joe Biden die Hände bindet“. Damit bezog man sich auf das Abkommen mit den Taliban, das am 29. Februar 2020 geschlossen worden war und somit zu Donald Trumps Präsidentschaft gehört. Dementsprechend hieß es aus dem ARD-Studio Washington weiter:
Die Taliban „waren für Trump ein so verlässlicher Partner, dass er mit ihnen ein Abkommen über den Truppenabzug aushandeln ließ. Nun heißt es, den Taliban zu vertrauen, sei naiv. Was alle diese Widersprüche übertünchen soll, ist die eine Botschaft: Biden trage die Verantwortung, Biden habe es vermasselt, in jeder Hinsicht.“
Trump hat sich „schon immer als den Größten dargestellt“
„Überrascht es jemanden, dass Donald Trump seinem Nachfolger Inkompetenz vorwirft und behauptet, dass es unter seiner Führung keine schnelle Machtübernahme der Taliban gegeben hätte?“, hatte die FAZ bereits am 22. August ihre Leser gefragt und weiter ausgeführt, dass der Ex-Präsident „sich schon immer als den Größten dargestellt“ habe.
Was Trump am Hindukusch womöglich hätte anders gemacht, erfuhr man allerdings nicht. Genauso wenig wie bei n-tv, der Süddeutschen, der Welt oder auf Tagesschau.de. Dort erklärte man in dem bereits erwähnten Artikel vom 4. September explizit: „Was Trump anders gemacht hätte, weiß niemand.“ Dabei hätte man nur mal hinhören müssen, denn der in Deutschland so unbeliebte Vorgänger von Joe Biden hatte vier Tage zuvor seine Exit-Strategie in einem Interview (30.08.) erläutert.
Zugegeben – das Interview hatte auf dem erzkonservativen TV-Sender OAN (One America News) stattgefunden, den der TV-Satiriker John Oliver mal so beschrieben hatte: „FoxNews mit weniger Scham und noch weniger Skrupeln.“ Und selbstverständlich konnte man auch bemängeln, dass OAN-Moderator Dan Ball nur Softball-Fragen an den Ex-Präsidenten gestellt hat. Aber das ist nicht anders, wenn Joe Biden bei CNN in den Ring steigt.
„Wir hatten die volle Kontrolle“
Gegenüber Ball hatte Trump zunächst einmal erklärt: „Als Joe Biden ankündigte, er holt das Militär raus, bevor er die Menschen oder die Ausrüstung rausholt, habe ich gedacht: Das kann nicht sein. […]
Er hat das Militär abgezogen und [so] die Kontrolle verloren. Dabei hatten wir vorher die volle Kontrolle. […] Nicht ein einziger US-Soldat ist in 18 Monaten unter mir getötet worden, weil sie [die Taliban] verstanden hatten: Wenn irgendein US-Soldat, wenn irgendein Amerikaner zu Tode kommt, dann gehen wir hinterher. Das habe ich oft getan.“
Trumps Einordnung, dass unter seiner Präsidentschaft innerhalb von 18 Monaten kein einziger US-Soldat gefallen ist, ist insofern richtig, dass es diese 18 Monate tatsächlich gegeben hat – allerdings nicht an einem Stück, sondern in der Summe.
Darüber hinaus verzeichnen Trumps Regierungsjahre (2017 bis 2020) tatsächlich die niedrigsten US-Verluste in Afghanistan. Nur zwei Jahre weisen noch niedrige Gefallenenzahlen auf: 2001 und 2016. Allerdings könnte man hier auch argumentieren, dass der Trend zu den niedrigeren Verlusten bereits in der zweiten Amtszeit von Barack Obama eingesetzt hatte und somit letztendlich auf dessen Politik zurückgeht.
„Beginnen wird es mit Ihrem Haus!“
Trump dagegen führt die niedrigen Verluste auf seine Verhandlungsführung mit den Taliban zurück und erklärte das gegenüber OAN wie folgt:
„Ich hatte damals mit Abdul [Baradar], der inzwischen offiziell ihr Anführer ist, zu tun. Er war damals auch einer der Anführer, insofern hatte ich also schon mal mit dem richtigen Mann zu tun. Und ich habe Abdul gesagt: ‚[Falls Amerikaner sterben], werden wir Sie so hart treffen – vielleicht härter, als je ein Land mit Waffengewalt getroffen worden ist’. Und ich sagte ‚Haben Sie das verstanden?’ Und er hatte verstanden. Und ich sagte noch: ‚Beginnen wird es mit Ihrem Haus. Genau da werden wir anfangen.’ – Das war’s [und so] ist nichts passiert.“
Kampfname „Baradar“
Trumps Verhandlungspartner Abdul Ghani Baradar, auch Mullah Baradar Akhund genannt, wurde 1968 geboren. Er hat bereits in den 1980er Jahren gegen die sowjetische Besatzung gekämpft. Damals gehörte Abdul zu einer Gruppe Mudschaheddin, die von dem späteren Taliban-Führer Mullah Omar (1960-2013) kommandiert wurde. In dieser Zeit entstand auch Abduls Kampfname „Baradar“, was soviel wie Bruder bedeutet und auf die Freundschaft der beiden Männer zurückgeht.
Nach dem 11. September 2001 wurde Baradar de facto Anführer der Taliban, deren Aktivitäten er aus dem benachbarten Pakistan steuerte. Anfang 2010 wurde er dort vom pakistanischen Geheimdienst verhaftet und kaltgestellt.
Trumps Sondergesandter für Afghanistan
Sieben Jahre später, am 20. Januar 2017, wurde Donald Trump als neuer US-Präsident vereidigt. Eines seiner politischen Ziele war es, das US-Engagement am Hindukusch zu beenden. Dafür trafen sich im Juli des folgenden Jahres amerikanische Unterhändler erstmals inoffiziell mit Abgesandten der Taliban im Golf-Emirat Katar. Im September 2018 ernannte Donald Trump dann Zalmay Khalilzad zum offiziellen Sondergesandten für Afghanistan.
Khalilzad ist zwar genauso wie Baradar gebürtiger Paschtune, gehört allerdings nicht wie der Taliban-Führer dem Stamm der Popalzai an, sondern der Noorzia (Nurzai). Geboren wurde der spätere US-Diplomat 1951 in Masar-e Scharif und wuchs in der afghanischen Hauptstadt Kabul auf, bevor er unter anderem in den USA studierte. Anschließend arbeitete Khalilzad für das State Department und war Botschafter in Afghanistan (2004-2005), im Irak (2005-2007) und bei den Vereinten Nationen (2007-2009).
Verhandlungen in Doha
Nur wenige Wochen nachdem Khalilzad im September 2018 Sondergesandter geworden war, ließ Pakistan Baradar Mitte Oktober 2019 auf Betreiben der Amerikaner frei, weil die Trump-Administration in ihm einen gleichermaßen einflussreichen als auch moderaten Verhandlungspartner sah.
Drei Monate nach Baradars Freilassung wurde er zum „Stellvertreter des obersten Führers der Taliban“ und zum „Chef des politischen Büros der Taliban“ im katarischen Doha ernannt, wo die Verhandlungen über ein Abkommen zwischen den USA und Afghanistan stattfanden. Dort wurde Baradar er im September 2020 auch ganz offiziell zusammen mit US-Außenminister Pompeo fotografiert.
Obwohl Baradar rein formal unter dem obersten Führer der Taliban (Hibatullah Akhundzada) agiert, gilt er doch im Westen – beispielsweise in der Washington Post – als de-facto-Anführer der Taliban, weshalb man Trumps Formulierung – „Ich hatte also schon mal mit dem richtigen Mann zu tun“ – als richtig einstufen kann.
Darüber hinaus lässt sich Baradars Position dadurch erhärten, dass auch die Biden-Administration auf ihn in schwierigen Lagen zurückgegriffen hat. So traf sich beispielsweise CIA-Direktor William Burns am 23. August 2021, also mitten in der chaotischen Evakuierung, persönlich mit Baradar in der afghanischen Hauptstadt.
Trumps Bedingungen an die Taliban
Weiter berichtet Trump über die Verhandlung in Doha: „Während der Verhandlungen zu dem Abkommen habe ich sie [die Taliban] oft bombardiert, weil sie irgendeine bestimmte Bedingung nicht erfüllten. Unsere wichtigste Bedingung war [immer], dass sie sich nicht an einen unserer Soldaten oder Zivilisten im Militär heranwagen sollten. Das war Nummer 1. Nummer 2 war, dass sie nicht mal daran denken sollten, auf dem Boden der USA selbst aktiv zu werden.
Das waren die beiden wesentlichen Bedingungen. Und es gab sie sowohl mündlich als auch sonst. Er [Baradar] hat das verstanden, so dass es nie Probleme gab, als ich Präsident war. […] Wir hätten einen großartigen Abzug [aus Afghanistan] haben können; wir hätten mit einem Sieg rausgehen können; wir hätten alle Zivilisten rausgeholt, alle Amerikaner und alle anderen, nachdem wir geprüft hätten, dass sie es wert sind.
Nun haben wir so viele Menschen so rasch rausgeholt. Und viele von denen sind Terroristen. Die sind einfach an Bord der Flugzeuge gegangen, weil […] sie genau wissen, was sie wollen, und weil sie besser wissen, wie man in ein Flugzeug reinkommt als ganz normale Leute, die unsere Hilfe und unseren Schutz brauchen. So haben wir Terroristen aus Afghanistan in die ganze Welt exportiert. Und man wird erst in der Zukunft sehen, was sich daraus noch entwickelt. Es ist eine Schande!“
Terrorwarnung zu Halloween
Bereits am 28. August hatte FoxNews von 100 Personen berichtet, die das US-Militär aus Kabul ausgeflogen hatte, die „in Wirklichkeit auf einer Terror-Überwachungsliste“ standen. Einer „arbeitet offenbar sogar für den IS“.
Angesichts von 100 Personen kann man sich zwar darüber streiten, ob der ehemalige Präsident in seinem Interview mit „a lot“ (vielen) übertrieben hat und er hier besser von „some“ (einige) hätte reden sollen. Ansonsten muss man ihm zugestehen, dass es über Halloween in den USA tatsächlich eine Terrorwarnung in Verbindung mit dem IS gegeben hat. Ziel waren Einkaufscenter im Norden Virginias, so die Radiostation Wtop aus dem benachbarten Washington D.C.
Das Kleingedruckte im Abkommen
Für den eigentlichen Abzug aus Afghanistan hätte man sich aus Trumps Sicht mehr Zeit lassen können bzw. müssen. Man hätte auch „ein oder zwei Jahre“ dafür brauchen können. „Es gab [ja] kein Datum, das zählte. Ich habe [zwar] gesagt ‚der 1. Mai’, aber das war kein [fixes] Datum.“
In dem am 29. Februar 2020 unterzeichneten Abkommen heißt es tatsächlich lediglich, dass die Truppen der USA und ihrer Alliierten innerhalb der kommenden 14 Monate „nach Bekanntgabe der Vereinbarung“ abziehen werden, das hieße bis Ende April 2021. Allerdings ist der Abzug in einzelne Phasen unterteilt, die jeweils kein festes Enddatum sondern lediglich einen Zeitrahmen (zum Beispiel „135 Tage“)haben und die an “Verpflichtungen“ gekoppelt sind, denen die Taliban nachkommen müssen. Der Abzug war somit vielmehr ein Prozess, der durch das Abkommen zwar in Gang gesetzt worden war, dessen Modalitäten aber keineswegs fix waren. Das lässt sich auch daran ablesen, dass sich US-Außenminister Mike Pompeo und der Sondergesandte Khalilzad sieben Monate nach der Unterzeichnung des Abkommens mit Baradar in Doha trafen und dass das endgültige Abzugsdatum eben nicht der 1. Mai 2021 wurde sondern der 31. August 2021, so die Vertreter der Taliban am 23. August 2021 in Doha.
Weiter führte der Ex-Präsident aus, dass man vor einem endgültigen militärischen Abzug nicht nur die amerikanischen Zivilisten hätte ausfliegen müssen, sondern kein „modernes [militärisches] Equipment“ hätte zurücklassen sollen. „Ich erinnere mich, wie ich [dem Chef des Generalstabs] General Milly sagte, wir nehmen die gesamte Ausrüstung, jeden Nagel, jede Schraube, jeden Bolzen mit. Er sah mich an und meinte ‚Sir, es wäre billiger, es [einfach] da zu lassen.’ – Ich sagte: ‚Vielleicht aus ihrer Sicht, aber nicht aus meiner.’“ARD besteht Faktencheck nicht
Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, Trump wollte so schnell wie möglich raus aus Afghanistan. Hier sind die Koordinaten seiner Administration und die des Weißen Hauses unter Joe Biden die gleichen. Aber Trump wollte – und hier liegt die Betonung und der Unterschied – zu seinen Konditionen raus. Die waren ihm nicht nur wichtiger als das Abzugsdatum, sondern auch so wichtig, dass er bereit war, ihnen militärischen Nachdruck zu verleihen. Sowohl in der Verhandlungsphase als auch danach, was automatisch zu einem längeren Engagement der USA in Afghanistan hätte führen können.
Das kann man nun als deutscher Qualitätsjournalist als „behauptet“ klassifizieren und weiter einordnen, dass sich Trump schon immer für den größten „Deal-Maker“ auf Gottes Planeten gehalten habe. Aber man kann nicht – schon gar nicht gegenüber seinen Gebühren zahlenden Lesern und Zuschauern – erklären, „niemand weiß“, wie es Trump hätte machen wollen. Das ist schlichtweg Fake News.
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Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Kachor Valentyna/ShutterstockText: Gast
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