Von Alexander Wallasch
Frank Ulrich Montgomery, Talkshow-bekannt als früherer Ärztekammerpräsident, sprach gestern Abend bei Anne Will von der „Tyrannei der Ungeimpften“ und der Spiegel legte heute früh in seiner Rezension noch einen drauf und beschuldigte – so muss man es leider lesen – die Ungeimpften in Altenheimen, die Alten dort umzubringen.
Die ebenfalls eingeladene Präsidentin des Deutschen Pflegerates wollte die Angriffe der Runde gegen das Pflegepersonal so nicht stehen lassen, sie nahm die Beschäftigten „aus dem Fadenkreuz“. Was wiederum Spiegel Online heute früh abtat, sie würde eben tun, „was sie als Präsidentin des Deutschen Pflegerates tun muss“.
Der Spiegel meint also, das Fadenkreuz war schon ganz richtig auf diese Ungeimpften gerichtet. Bleibt also nur noch die Frage, wer abdrückt? Was für ein grässliches Spiel mit Worten. Was für eine Eskalation der Scharfmacher und der Hetzer.
Und Geschichtsvergessenen. Denn im deutschen nationalen Sozialismus gab es Publikationen, die sich auf Volksverhetzung spezialisiert hatten. Die Menschen für vogelfrei erklärten. Was danach geschah, ist allen bekannt.
Wehret den Anfängen!
Und man möchte weiter annehmen, dass die Rezeption dieser Zeit des Grauens in Deutschland dazu geführt hat, dass ein „Nie wieder!“ Teil der deutschen DNA geworden wäre. „Wehret den Anfängen!“ gehört nämlich zu Recht zum festen Programm an Schulen und anderen Orten, wo Menschen heute gemeinschaftlich in Deutschland aufeinandertreffen.
Dementsprechend sollten hierzulande bei Anzeichen von Grenzüberschreitungen kollektiv alle Alarmsirenen losgehen. Aber ist das wirklich noch so?
Was gestern bei Anne Will passiert ist, und wie Medien wie der Spiegel darauf reagieren, erinnert – dieser Vergleich ist hier und mit Blick auf die überschrittenen roten Linien absolut zulässig und mit Bedacht gewählt – leider an die eingangs erwähnte düstere Zeit.
Blattgründer Rudolf Augstein würde sich im Grabe umdrehen, sein Sohn Jakob ist schon länger öffentlich verstummt – er wird dafür seine Gründe haben.
Weitere Gäste bei Anne Will zum Thema „Corona-Neuinfektionen auf Höchststand – braucht Deutschland eine Impfpflicht?“ waren Katrin Göring-Eckardt, die graue Eminenz und Fraktionschefin der Grünen, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, zugeschaltet aus München, und Alena Buyx als Vorsitzende des Ethikrates.
Und das sagt Montgomery bei Anne Will im Wortlaut zunächst zur Trickkiste, die auslaufende pandemische Lage nationaler Tragweite vom hintenrum über eine neuerliche Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes zu verlängern:
Persönlich hab ich das mit der pandemischen Lage eigentlich als gut empfunden. Wenn man das durch andere Gesetze regeln kann, soll mir das auch recht sein.
Und zur Impfpflicht und dem Versprechen einiger Politiker, diese niemals einzuführen, sagt Montgomery bei Anne Will am Sonntagabend zur Primetime:
Womit man aber aufhören muss, ist, dass sich jemand hinstellt und sagt: ‚Mit mir wird es nie eine Impfpflicht geben, mit mir wird es nie einen Lockdown geben.‘ – diese apodiktischen Nie-Aussagen sind einfach falsch. Es wird Situationen geben in absehbarer Zeit, wo man – manchmal lokalisiert, manchmal vielleicht in einem ganzen Bundesland, manchmal vielleicht auch, und Gott möge das verhüten, in der ganzen Bundesrepublik – solche Maßnahmen wird machen müssen, damit wir diese Pandemie einfangen.
Und dann folgt beim Vorstandsvorsitzenden des Weltärztebundes eine Bemerkung, die – und das ist ein Hinweis auf fortgeschrittene Verrohung – niemanden in der Runde aus seinem cremefarbenen Sessel geschmissen hat:
Momentan erleben wir ja wirklich eine Tyrannei der Ungeimpften, die über das Zweidrittel der Geimpften bestimmen und uns diese ganzen Maßnahmen aufoktroyieren.
„Tyrannei?“, fragt Anne Will ungläubig nach oder doch, weil sie hoffnungsvoll ahnt, dass das am Folgetag die Nachricht sein könnte?
„Ja“, antwortet Montgomery, „ich benutze bewusst den Begriff der ‚Tyrannei‘, denn in Ländern, in denen 97 Prozent geimpft sind, wie in Portugal, gibt es all diese einschränkenden Maßnahmen nicht mehr, weil man sie nicht mehr braucht.“ Im Hintergrund sah der Zuschauer dazu verschwommen Markus Söder vom Bildschirm herunter zustimmend nicken.
Duldung von Ungeimpften in Altersheimen
Und der Ex-taz-Autor Arno Frank kommentiert heute für Spiegel Online:
Interessanter ist da die Frage nach den Tyrannen, den Ungeimpften etwa in der Pflege – deren Duldung etwa in Altenheimen immer wieder Pflegebedürftigen das Leben kosten.
Ungeimpfte Altenpfleger sind also Mörder? Wie lange wohl dauert es jetzt noch, bis sich Linksextremisten gewaltbereit mit ihnen dann zugespielten Listen der Ungeimpften – willfährig zusammengestellt vom Arbeitgeber – vor die Altenheime stellen und die Altenmörder abfangen?
Szenen wie in den USA vor Abtreibungskliniken werden dagegen wohl noch harmlos erscheinen: Der Deutsche wird auch das wieder gründlicher erledigen als alle anderen auf der Welt.
Ach ja, Katrin Göring-Eckardt macht sich noch Sorgen darum, dass die Trickkiste mit dem Infektionsschutzgesetz als Rechtsbruch von Gerichten beurteilt werden könnte:
Wir brauchen einen rechtssicheren Schutz. (…) Es geht ja nicht darum zu sagen, wir brauchen irgendwie keine Corona-Maßnahmen mehr, aber angesichts der Tatsache, dass Zweidrittel geimpft sind, muss man jetzt zu Maßnahmen kommen, die ausreichend sind, die hilfreich sind und die dafür sorgen, dass sie auch nicht von Gerichten gekippt werden.
Was die oberste Ideologieführerin der Ampel da bei Anne Will auslobt, ist nicht weniger als die unendliche Verlängerung der „pandemischen Lage nationaler Tragweite“ über die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes.
Und was da gestern im öffentlich-rechtlichen Fernsehen passiert ist und vom Spiegel noch befeuert wurde, ist eine weitere Eskalationsstufe auf der nunmehr nach oben offenen Skala. Hier muss man sich als deutscher Antifaschist dann wirklich fragen: Wo bleibt der Protest der Millionen, wie kann so etwas in einem Deutschland von 2021 überhaupt noch möglich sein, wo soll das enden?
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Text: wal