Hält man ein schweres Buch in der Hand, fragt man sich, ob es dieses zu lesen lohnt. Bei jedem dicken Roman – und »Die Glaskugel« von Jan Mayer ist gut 700 Seiten dick – will man wissen, ob er bloß eine Geschichte enthält, oder etwas darüber hinaus bietet, nämlich den Stoff zum Lernen, zum Erinnern und zum Nachdenken.
Die Geschichte setzt im August des Kriegsjahres 1942 mit einer Zugreise an, von der Passagiere lediglich wissen, dass sie irgendwann beendet sein würde. Ähnlich hört sie auf: Der deutsche Historiker Rotbart, dessen Werdegang die Entwicklungen in Deutschland, Polen, der Ukraine und Russland zum Plot des Romans gleichsam zusammenschweißt, steigt im August 2016 in den Zug ins Ungewisse ein. Für solche Reisen braucht man Hoffnung. Diese ist jedoch so brüchig wie die Glaskugel, der die aus dem Osten Europas kommenden Helden des Romans ab und zu begegnen.
Vor 1989 hätten der Westen und der Osten nicht unterschiedlicher sein können: Auf der einen Seite das biedere Glück, die Billigkeit sowie die bunt übermalte Langweile der Bundesrepublik, auf der anderen Seite die Tragik und Absurdität der zerkratzten, grauen Wirklichkeit des kommunistischen Ostens, in dem scheinbar alle vom westlichen Wohlstand und Lebensstil träumten.
Nach dem Kommunismus bestimmt im Osten Geld, wo es langgeht, und insofern ähneln sich die östlichen Lebensläufe immer mehr den westlichen. Auch im Osten baut Erfolg auf dem Verrat eigener Ideale auf. Die Karrieren des Geschichtsprofessors Rotbart und seines Intimgegners Udo Zenobius sind für diesen Lebensstil insofern symptomatisch, als beide vom Wunsch nach Bestätigung und Anerkennung getrieben werden. Der von seinem Beruf enttäuschte Rotbart übt sich in Machtspielen mit Frauen, während der Politiker Udo in der echten Machtausübung aufgeht.
Eine wichtige Message des Romans, dass Menschen nach Macht streben, weil sie zur Liebe unfähig sind, würden diejenigen am liebsten überhören, die wie Udo Zenobius daran glauben, dass die „freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik“ aus den Deutschen bessere Menschen gemacht hat. Rotbart (offenbar dem Buchautor ähnlich) kann darüber nur lachen.
»Die Glaskugel« ist also ein Roman über Hoffnung und Macht. Die Leser stellen fest, wie sehr sich die Macht in der langen Friedenszeit verändert hat. Der Onkel von Udo Zenobius, der im Sommer 1942 in der SS-Uniform die Passagiere des eingangs erwähnten Zuges im Vernichtungslager Bełżec begrüßte, hatte noch die Macht, mit seiner Browning fast jeden umzubringen. Demgegenüber knapp zwei Generationen später leidet Udo darunter, nicht in der Position zu sein, die Karriere seiner Mitarbeiter ruinieren zu können.
»Die Glaskugel« ist aber auch ein Roman über den Kommunismus und den „Spuk“, den er hinterließ. Den Lesern wird nach der Lektüre bewusst, dass in jeder Gesellschaft nicht nur der Frieden, sondern auch das System einen Unterschied macht. Der russische Offizier Grigorij, eine der zentralen Romanfiguren, lebt in der Sowjetunion gut, sogar sehr gut. Er hat aber dennoch stets mit der Angst zu tun, weil er von seinem Gönner, dem Oberkommandierenden der Warschauer-Pakt-Staaten, fallen gelassen werden könnte. Mit seiner Bindung an den Marschall der Roten Armee stellt Grigorij einen Kontrapunkt zu Rotbart dar, der seinen Aufstieg im System der bundesdeutschen Universitätswelt eigenständig meistert. Selbst die Tatsache, dass Udo Zenobius es nicht schafft, sich von seinem politischen Zugpferd Gerhard Schröder zu emanzipieren, illustriert letztlich die Autonomie und Freiheit des Einzelnen im westlichen System.
Nach dem Kommunismus bietet der europäische Osten einigen Romanhelden schier unbegrenzte Aufstiegschancen. Sowohl Grigorijs strebsame Tochter, in der die Leser Julia Tymoschenko erkennen mögen, als auch eine polnische Liebhaberin von Rotbart verdienen mit ihren wirtschaftlichen Aktivitäten binnen weniger Jahre hunderte Millionen Dollar. Die Kehrseite ihres Erfolges stellt allerdings die geistige Leere dar, die der Verzicht auf eigene Ideale nach sich zieht. In Polen trägt diese Selbstverleugnung zum Hass der Neureichen auf diejenigen Politiker bei, die versuchen, die neue Ordnung gerechter zu gestalten.
Der Autor von »Die Glaskugel« ist geschichtsversessen. Für diese Einschätzung spricht jedenfalls die Tatsache, dass er sich zutraut, die hinter verschlossenen Türen geführten Gespräche der bekannten Politiker – die er unter Decknamen auftreten lässt – zu „rekonstruieren“. Dank dieses Wagnisses erfahren die Leser, wie der polnische Parteichef Jaruzelski sich der sowjetischen Führung unterwarf. Oder sie lernen Gorbatschows Beweggründe für Reformen, die er im Frühling 1987 in einem mit dem besagten Marschall geführten Gespräch über Perestrojka verriet. Sie wohnen zudem der seltsamen Begegnung von Wladimir Putin und Gerhard Schröder in einer St. Petersburger Sauna bei. Ein Jahr später sind sie dabei, als sich Lech Wałęsa, Jarosław Kaczyński und Tadeusz Mazowiecki darüber zerstritten, wann man denn den Staatspräsidenten Jaruzelski absetzen sollte. Schließlich lauschen die Leser dem Monolog eines Staatssekretärs in der Regierung der Großen Koalition, der in einem vertraulichen Gespräch mit Zenobius im August 2015 die Gründe für die Öffnung der deutschen Grenzübergänge für hunderttausende Migranten offenlegte.
Die politische Küche vermischt Mayer mit dem zuweilen tragischen, oft dramatischen und ab und zu langweiligen Alltag seiner Protagonisten. Er nimmt seine Leser nicht nur nach Bełżec mit, sondern auch im August 1982 in den Kriegszustand nach Polen. In Posen finden sie sich auf einer antikommunistischen Party zusammen, bei der infolge der sozialistischen Versorgungsengpässe ausschließlich geräucherte Makrele, Brot und Sauergurken, reichlich begossen mit Wodka, serviert werden. Mayer zeigt ihnen nicht nur die Arbeitsmethoden und Denkweisen der Funktionäre des kommunistischen Sicherheitsdienstes, sondern auch die akuten Gefährdungen der Pressefreiheit in der Bundesrepublik, ebenso im Jahre 1982 wie im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Er lässt die Leser an der Erhabenheit und der Trauer des ukrainischen Majdans 2014 teilhaben. Er veranschaulicht ihnen den Untergang der männerdominierten Sexualität, indem er seine weiblichen Figuren sowohl in frivolen Gesprächen als auch beim Intimverkehr Initiative ergreifen lässt.
In den gut 120 kleinen Unterkapiteln versetzt uns »Die Glaskugel« in die längst vergessene Welt, in der es keine Handys und keine sozialen Medien, dafür aber geschlossene Grenzen und im Osten Europas unlösbare Probleme mit Telefonanschlüssen gab. Diese Welt war zwar langsam, aber keineswegs weniger dynamisch als die von heute. Die geschichtsträchtige Dynamik der vergangenen Langsamkeit ermahnt uns: Auch die heutige Zeit lässt sich nicht kontrollieren. Nach wie vor befinden wir uns auf einer Zugreise, die ins Ungewisse führt. »Die Glaskugel« liefert zum melancholischen Nachdenken Stoff in Hülle und Fülle.
Die Themen des Romans sind also zahlreich: Hoffnung, Macht, europäische Geschichte, Leben im Osten und Westen, Melancholie. Aber auch an der handwerklichen Vielseitigkeit dieses Buchs, das Passagen des Sozial-, des Liebes- und des Phantasieromans enthält, sich zudem zuweilen als politischer Thriller oder von Ironie durchtränkter philosophischer Monolog liest, haben die Leser ihren Spaß.
Es besteht kein Zweifel daran, dass „Jan Mayer“ ein Pseudonym ist. In der Autorennotiz wird vermerkt, dass er „unter anderen Namen“ in wichtigsten deutschen Zeitungen publizierte. Wer versteckt sich hinter dem Decknamen?
Wer den Roman gelesen hat, wird wahrscheinlich zum Schluss kommen, dass »Die Glaskugel« vom Autor des Umschlagsfotos verfasst wurde, das jedem, der in die Nähe des Buchs kommt, ins Auge springt. Er ist Pole, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und in Regensburg als Professor für Politikwissenschaft arbeitet. Wie heißt er?
Es steht im Impressum. Nebenbei bemerkt: Der Titel des Romans bezieht sich auf eine einfache Weihnachtsbaumkugel. Wer hat gesagt, dass dieser Schmuck zu Weihnachtstagen nur im Original besorgt werden soll?
Bild: ShutterstockText: Gast