Zwischen neuer „Zivilreligion“ und außenpolitischem Autismus Bleibt für Deutschland und Europa künftig nur eine Nische in der Weltpolitik?

Ein Gastbeitrag von Dr. Peter Seidel

1990, vor dreißig Jahren, wurden sehr unterschiedliche Deutungen möglicher Entwicklungen internationaler Politik vorgelegt: Francis Fukuyamas berühmte These vom „Ende der Geschichte“, Ralf Dahrendorfs entgegengesetzte Feststellung vom „Wiederbeginn der Geschichte“ oder John Mearsheimers Warnung „Back to the Future“ mit seiner Kritik am ökonomischen Liberalismus, am reinen Business Approach. Also eine idealistisch-ökonomistische, eine gemäßigt-realistische und eine machtpolitische Deutung. Angesichts des Zerfalls der Sowjetunion und der Schwäche Chinas entschieden sich die westlichen Eliten nur zu gern für die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ und glaubten wohl auch an die weltweite Etablierung einer „neuen Weltordnung“ nach US-Vorbild. Vornehmster Ausdruck dieser „Eine Welt-Philosophie“ war und ist noch der Global Governement-Ansatz, wonach Staaten im Vergleich zu internationalen Organisationen oder sog. Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) immer unwichtiger, ja im Extremfall sogar überflüssig würden. Alles laufe ja sowieso auf eine einzige Weltregierung hinaus. Nur: Unter welchem Kommando?

Seit 1990 hat sich die Welt dramatisch verändert. Alte Machtzentren entstehen neu, frühere Vorstellungen erweisen sich als Illusion. Und damit wachsen für Europa neue geopolitische Herausforderungen, ob in Nordafrika, dem Nahen Osten, dem Balkan oder an der Ostgrenze der EU. Ursache sind der Aufstieg Chinas, die Konsolidierung Russlands, die relative Schwächung und Zurücknahme amerikanischer Aktivitäten in der Welt. Die drei wichtigsten europäischen Großmächte aber schauen fast nur noch nach innen, seit sie Macht und Kolonien verloren haben. Ganz anders die drei Weltreiche, nationalstaatlich organisierte und geführte Imperien, die ihre Kolonien weitgehend behalten haben, weil sie nicht in Übersee, sondern angrenzend entstanden, in den USA beispielsweise mit Neumexiko oder Alaska, Russland in Sibirien und auf der Krim, und China mit Tibet, Sinkiang oder der Inneren Mongolei. Sie begründen gerade eine neue Phase imperialer Großmachtpolitik.

Weltweite Probleme wie Pandemien, Klimawandel, Terrorismus oder der internationale Handel, die Überbevölkerung der Dritten Welt nicht zu vergessen, verblassen im Zeichen der aufziehenden Geopolitik. Doch vor allem im Westen erfreut sich die Global Governance-Theorie nach wie vor großer Beliebtheit, vor allem bei kleineren Ländern, Organisationen, Unternehmen und Wissenschaftlern. In Europa, und nur hier, verbunden mit einer Delegitimierung des Nationalstaats und staatlicher Souveränität. Die entscheidende Bedingung für den zeitweisen Siegeszug dieser Theorie wird allerdings bis heute verdrängt: die jetzt zu Ende gehende, unangefochtene, unilaterale, amerikanische Dominanz in der Welt.

China hat zu solch westlichen Vorstellungen geradezu ein Gegenkonzept entwickelt, bei dem die Staaten, insbesondere die Großmächte, im Mittelpunkt stehen und multilaterale Aktivitäten und Organisationen benutzt oder ignoriert werden. Mehr oder weniger trifft dies längst auch auf Russland und selbst die USA zu. Sie denken zwar an „Regime Change“ als Mittel der Außenpolitik, gern auch unter Benutzung staatlich finanzierter NGOs, doch sicher nicht daran, den Nationalstaat abzuschaffen wie manche Europäer, die sich paradoxerweise dann aber nur zu gern einem „Nation Building“ in der Dritten Welt und deren Demokratisierung verschreiben, obwohl die Vielvölkerstaaten dort in der Regel eher zu scheiternden Staaten als zu Demokratien werden.

International wird deshalb längst festgestellt, dass die Global-Governance-Theorie gescheitert sei, gescheitert an ihren falschen Prämissen, insbesondere der behaupteten Orientierung internationaler Politik am Gemeinwohl, der Fehleinschätzung der Rolle der Großmächte sowie der maßlosen Überschätzung multilateraler/supranationaler Mechanismen und Organisationen, ja, dass damit eine dreißigjährige „Ära zu Ende geht“, wie Maximilian Terhalle, Politikprofessor in Winchester/England klarstellt. Und zu der einer ihrer herausragendsten Ideengeber in Deutschland, Jürgen Habermas, mit der Übertragung deutscher innenpolitischer Vorstellungen auf die internationale Politik auch universitär und in der Öffentlichkeit maßgeblich beigetragen habe: „Habermas hat eine Folie für bundesrepublikanische Außenpolitik“ entworfen, die „dem nachkriegsdeutschen Bewusstsein vieler Philosophiefakultäten affin war“. Er habe dadurch eine „Erkenntnistradition“ geschaffen, die „global und konzeptionell wesentlich limitiert“ sei. „Materiell und normativ“ gebe es heute „diese Welt in dieser speziellen Form nicht mehr“.

Durch die Übertragung solcher deutschen innenpolitischen Vorstellungen auf die Außenpolitik konnten die linksgrünen Wiedervereinigungsgegner 1990 plötzlich zu glühenden Europäern mutieren und dabei gerne auch mal das Gespenst eines „Vierten Reiches“ an die Wand malen. Das Ziel: die deutsche Identität in einer europäischen Union aufzulösen. Kein Wunder, dass deutsche Europapolitik bis heute Innenpolitik unter Einmischung finanzieller Mittel geblieben ist. Man kauft sich frei nach dem Motto, wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt. Da marshallplant es gewaltig in deutschen Amtsstuben. Europa auf dem Weg der Transferunion – gerade auch mit deutschen Ablassgeldern.

Dies gilt auch für den EU-Corona-Gipfel vom Sommer mit seinen fälschlicherweise “Wiederaufbauprogramm“ genannten Umverteilungen. Hier dürfte es sich in der Tat bereits um eine Richtungsentscheidung handeln, die die EU grundsätzlich und auf lange Zeit festlegt. Schon betont der deutsche Finanzminister, die dort beschlossenen Transfers seien keine einmalige Ausnahmen, sondern bald schon die Regel. Und die französische Präsidentin der Europäischen Zentralbank hat sich das Argument gleich zu eigen gemacht, wie auch so manche ihrer Kollegen in Paris. Den Vogel aber schossen wieder einmal die Italiener ab: Sie wissen noch nicht, wie sie die Hunderte von Milliarden, die sie bekommen, ausgeben wollen, da wissen die ersten schon, sie bräuchten auch unbedingt noch einen Schuldenschnitt. Kein Wunder, dass sich längst die Stimmen mehren, die angesichts des faktischen Außerkraftsetzens nahezu aller Auflagen der Währungsunion befürchten, das Geld würde ergebnislos in einem Fass ohne Boden verschwinden. Glaubt wirklich jemand im Ernst, so würde eine tragfähige Basis für die Zukunft Europas geschaffen? Vielleicht nach dem Motto, der Euro ist unsere Währung, aber euer Problem?

Von dieser Fehlentwicklung ist Deutschland deshalb besonders betroffen, weil hier „die Antifa-Ideologie der DDR und der von den 68ern angestoßene, bald von allen Parteien übernommene quasireligiöse Kollektivschuldkult mit Auschwitz im Zentrum zusammengerührt und zum Kern einer neuen Zivilreligion gemacht wurde“, wie Hans-Peter Schwarz, der inzwischen verstorbene Bonner Politikprofessor, kurz vor seinem Tode noch hervorhob. Doch auch in Deutschland regt sich Widerstand, wenn auch bisher nur im Kreise der Experten. Während die einen das Scheitern der Global Governance konstatieren und andere eine neue Zivilreligion kritisierten, erkennen Dritte eine „deutsche Krankheit“, wie der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Thomas Enders, der deutscher Außenpolitik „Appeasement-Politik“ vorwirft und dies mit “jahrelanger Autosuggestion der politischen Eliten“ hierzulande begründet. Und ein so renommierter Politikprofessor und Senior der bedeutenden Stiftung Wissenschaft und Politik wie Hanns Maull konstatiert gar deutschen „außenpolitischen Autismus“. Darunter versteht er dann die „Folgen politischer Fehlentwicklung oder von emotional aufgeladener Politik“, eine „Folge emotional aufgeladener kollektiver Einstellungen“ aufgrund von „Schuldgefühlen wegen vergangener Ereignisse“, die als „emotionaler Ballast“ dazu führten, „sich kognitiv abzuschotten und Beobachtungen nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, die den eigenen Gefühlen und Weltbildern nicht entsprechen“.

mvgDiese Kritiken sind deutliche Hinweise darauf, dass die Grundlage europäischer Selbstbehauptung gerade in Deutschland von Jahr zu Jahr mehr erodiert, und damit auch in der EU, da eine erfolgreiche europäische Außenpolitik ohne oder gegen den selbsternannten Financier Europas kaum möglich sein dürfte. Der französische Präsident könnte sicher ein Lied davon singen. Die einst stärkste Armee Europas, die Bundeswehr, richtet man zugrunde – der Potsdamer Professor für Militärgeschichte, Sönke Neitzel, verweist darauf, dass die Bundeswehr bereits angesichts der Krimkrise 2014 „den Offenbarungseid leisten musste, zur Bündnisverteidigung nicht mehr in der Lage zu sein“. Aber: „Im Kanzleramt ist keinerlei Interesse zu erkennen, sich mit Fehlern der Vergangenheit zu befassen“. Also „steckte das politische Berlin den Kopf in den Sand“. Doch wer keine ernstzunehmenden (konventionellen!) militärischen Optionen mehr habe, so der Vorsitzende der DGAP, „der neigt natürlich zu Mutlosigkeit und vorauseilender Kapitulation vor gewalttätigen Autokraten. Und kaschiert diese wenig ehrenhafte Verhaltensweise mit scheinbar progressiven Vokabeln wie eben dem Multilateralismus.“

Wenn sich dann auch noch bis weit in die SPD-Führung hinein grassierende Vorstellungen von der Aufgabe der deutschen nuklearen Teilhabe, von Deutschland als nuklearfreier Zone und einer einseitigen Aufgabe der nuklearen Abschreckung durchsetzen sollten, braucht von europäischer Sicherheitspolitik und glaubwürdiger Abschreckung in Europa nicht mehr die Rede sein. Auch bündnisfähig wäre Deutschland dann endgültig nicht mehr. Und dies, obwohl das Potenzial dafür da wäre – im Vergleich etwa zu Russland hat die EU die dreifache Bevölkerungszahl und das zehnfache Bruttosozialprodukt, von einer leistungsfähigen Industrie ganz zu schweigen. Wenn es noch eines Nachweises bedürfte, dass die Global Governance wirklich gescheitert ist, dann doch wohl hier.

Wenn die Trauben hoch hängen erscheinen sie manchem als sauer. Dies gilt auch für die Außenpolitik. Ohne eine glaubwürdige europäische Abschreckung hat sie kein Fundament, wenn die USA ihren Nuklearschirm für Europa wie befürchtet aufgeben sollten. Doch auch hier hängt man in Europa, vor allem in Berlin, alten Illusionen nach: Ob es um die schon einmal gescheiterte Idee einer EU-Armee geht oder eine Europäisierung französischer Abschreckung: Weder erlaubt der Atomwaffensperrvertrag die Schaffung einer eigenen europäischen Nuklearstreitmacht, noch ist die nukleare Verfügungsgewalt über nationale Potenziale teilbar. Die Idee eines europäischen Sicherheitsrates mit Veto-Recht für die drei europäischen Großmächte geht zwar in die richtige Richtung, ist aber längst auf Eis gelegt. Eine kraftvolle deutsche nukleare Sicherheitspolitik, zusammen mit Frankreich und Großbritannien in einem europäischen Sicherheitsrat, ist derzeit bloße Theorie. Doch nur durch die Bündelung nationalstaatlicher Ressourcen, eine institutionalisierte Koalition der Willigen, ist Sicherheit in Europa möglich, nicht durch die Schaffung potemkinscher Dörfer mit ihren ach so schönen Fassaden.

Großes Handicap

Solche falschen Weichenstellungen haben meist eine längere Vorgeschichte. Für Deutschland wie für die EU bedeuten überholte Weltbilder und Theorien heute jedenfalls ein großes Handicap: 1945, gedacht zur Befriedung Europas und zur Einhegung Deutschlands, erforderte dies eine Binnensicht, die heute kontraproduktiv geworden ist, erst recht nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands. Doch auch veraltete Theorien und Illusionen können lange nachwirken, zur Zementierung überholter Mentalitäten führen und dazu, dass Deutschland und Europa zukünftig zwischen den Weltmächten zerrieben werden könnten.

In den Schlusssätzen zu seinem epochalen Werk „Niedergang und Fall des Britischen Empire“ hat Piers Brendon vor dreizehn Jahren auf zentrale Kategorien internationaler Selbstbehauptung aufmerksam gemacht: „Das heftige Verlangen nach Macht und Reichtum ist ein atavistischer Instinkt. Die Lust zu erobern ist Teil der menschlichen Natur. Der Geist des Imperialismus ist nicht tot: er sucht auch die moderne Welt heim und seine Manifestationen sind Legion.“ Die EU ist diesen altneuen geopolitischen Erfahrungen intellektuell nicht gewachsen, Deutschland schon gar nicht. Vor allem fehlt der Wille, sich den neuen Realitäten zu stellen. Wie lange mag das so wohl noch gutgehen?


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Dr. Peter Seidel, Public-Affairs-Berater und Autor, Frankfurt/Main

 

 

 

 

Bild: symbiot/Shutterstock

Text: Gast

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