Ein Warnhinweis vorneweg: Ich bin gleich nach meinem Abitur zu meiner Jugendliebe zum Studium nach Moskau gezogen und wurde, was den Umgang zwischen den Geschlechtern angeht, im Wesentlichen russisch sozialisiert. Für hypersensibilisierte Rotgrüne könnten daher manche meiner Standpunkte verstörend sein und ich rate Ihnen, spätestens hier aus dem Text auszusteigen – er könnte Sie befremden und derart negative Gefühle wollen sich die rotgrünen „Schneeflocken“ (so nennt man sie, weil sie bei jedem Stress sofort zu schmelzen drohen) ja nicht zumuten.
Aber nun zur Sache – für die nicht nur dem Ausweis nach erwachsenen Leser (und natürlich auch die Minderjährigen, die sich nicht zu den Schneeflocken zählen). Mich hat ein Artikel im Spiegel verstört. In dem unter anderem steht: „Der Landesvorstand der Jusos in Bayern hat offenbar den Generalsekretär der Bayern-SPD Arif Taşdelen von den Veranstaltungen der Jugendorganisation ausgeschlossen. Taşdelen soll sich gegenüber jungen Frauen unangemessen verhalten haben, berichtet die »Süddeutsche Zeitung« unter Berufung auf Juso-Landeschef Kilian Maier.“
„Oh Gott, was ist da los?“, fragte ich mich! Ein Sittenstrolch mit SPD-Parteibuch? Einer, der seine Macht missbraucht, um Frauen zu nötigen? Tun sich da Abgründe auf? Umso erstaunter war ich, als ich den Artikel weiter las. Da steht, was sich der vermeintliche Unhold hat zu Schulden kommen lassen: „Es geht demnach um aufdringliche Fragen nach Handynummern, Kontaktversuche durch Kurznachrichten oder bei Social-Media, die von Frauen als problematisch wahrgenommen wurden. Strafrechtlich relevant ist demnach wohl keine der Anschuldigungen, hieß es.“
Nach russischen Maßstäben ist das ein ganz normales Flirtverhalten. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass die Schwelle der „Aufdringlichkeit“ ja nach Land und Milieu unterschiedlich definiert wird. Bei Jungsozialistinnen, so meine persönlichen Erfahrungen aus der Jugendorganisation der Partei, beginnt sie schon bei einem harmlosen Kompliment. Genossinnen beklagten sich öfter im Brustton der Empörung über schlimmste „Aufdringlichkeiten“. Die darin bestanden, dass ihnen jemand gesagt hat, dass er sie attraktiv fände. Diese Klagen gingen immer von denjenigen Genossinnen aus, bei denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand wirklich so ein Kompliment machen könnte.
Der Effekt: Meine Sozialisierung bei den Jusos machte es für mich unmöglich, einer Frau auch nur ein paar nette Worte zu sagen – weil ich überzeugt war, das sei fast schon sexuelle Nötigung. Russland hat mich davon geheilt. Bzw. sehr einfühlsame und wunderbare Russinnen (das darf man sicher auch schon wieder nicht sagen – wir befinden uns auf vermintem Gelände). Nach 16 Jahren Russland und mit einem Freundeskreis in Deutschland, der schwerpunktmäßig aus Russen und Ukrainern besteht, ist es mir inzwischen ein Rätsel, wie sich die „Woken“ in Deutschland fortpflanzen – in einer Gesellschaft, in der selbst der gepflegteste Flirt tabu ist.
Verrat an linken Idealen
In Osteuropa gehört Flirten zum Alltag. Manchmal auch zu rabiat, aber meistens ganz harmlos. Und zur Freude beiderlei Geschlechter (mehr als zwei gibt es in Osteuropa nicht). Viele Russinnen und Ukrainerinnen beklagen sich bitter, dass ihnen in Deutschland diese harmlosen, schönen Flirts fehlen – ein kleines Kompliment, ein besonders freundliches Lächeln, ein Tür-Aufhalten, eine Einladung ins Café.
Statt sich so etwas zu gönnen und mal ein bisschen zu leben, muss der SPD-Generalsekretär, der arme Kerl, jetzt quasi in die Ecke, zum Nachsitzen: Seine Anwältin versichert, Taşdelen habe „die Konsequenz gezogen, achtsamer zu formulieren“ und werde an einem Awareness-Coaching teilnehmen. Er nehme die Situation sehr ernst.
Diese Selbstkasteiung muss wohl sein. Vielleicht muss er noch hundert Mal schreiben: „Ich darf einer Frau nie zeigen, dass sie mir gefällt.“ Denn sonst könnte ja am Ende noch der Verdacht aufkommen, der Mann sei am entgegengesetzten Geschlecht interessiert. Und würde sogar flirten! Und das gilt offenbar bei Rotgrün als: Igitt!
Kompliment = Nazi?
Wobei man hier sehr schnell auf rutschiges Terrain kommt. Ist es Diskriminierung, einem (oder muss man sagen einer?) Transgender ein Kompliment zu machen? Oder ist es Diskriminierung, das nicht zu tun? Fragen über Fragen für ein Steinzeit-Exemplar wie mich, das schlicht und einfach Mann ist und nicht das Geschlecht wechselt! Ja, ich weiß, das gilt bei den Progressiven heutzutage primitiv! Dass ich auch heutzutage noch Frauen gerne Komplimente mache und den gepflegten Alltagsflirt überaus schätze – das macht mich für die Woken sicher zum Nazi.
Vielleicht sind die Genossen einfach nur direkter? Nach dem Sommerfest der SPD-Bundestagsfraktion im Juli am Kanzleramt Berlin, einem internen Event, klagten neun Frauen über Unwohlsein, Blackouts und Erinnerungslücken. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts, dass man ihnen K.O.-Tropfen untergejubelt hat.
Besser hochstapeln als flirten?
Auch der Spitzenkandidat der SPD zur EU-Wahl in Brandenburg trieb es bunt – aber nicht in dem Sinne, den Sie jetzt vielleicht im Sinn haben. Er gab im Wahlkampf eine Frau, die von ihrem Glück nichts wusste, als seine Partnerin aus. Später inszenierten ihn die rotgrünen Medien als Opfer.
Aber Galgenhumor beiseite: Dass der vermeintlich so progressive rotgrüne, woke Zeitgeist zutiefst prüde ist und dabei sogar hinter Epochen zurückfällt, die heute als „miefig“ gelten, wird völlig ausgeblendet. Besonders bizarr: Linke waren früher für Freizügigkeit und gegen Einschränkungen, was das Geschlechtliche angeht. Heute – bei den Champagner-Linken – ist es offenbar umgekehrt.
Für den bayerischen SPD-Generalsekretär galt weder die Unschuldsvermutung noch das Recht jedes Beschuldigten, sich zu den Vorwürfen gegen ihn zu äußern. Er ließ über seine Rechtsanwältin erklären, er sei vor dem Juso-Beschluss, ihn auszuschließen, nicht angehört worden und „sehr bestürzt“ darüber. Ihm seien keine Details zu den Vorwürfen genannt worden. Die Anwältin schrieb laut „Spiegel“, dass etwa Taşdelens Frage nach einer Handynummer „ausschließlich einen beruflichen Hintergrund“ gehabt habe. Es gehe zudem nicht um mehr als zwei Fälle. Wie bitte? Wenn die Frage einen „privaten Hintergrund“ gehabt haben sollte – was wäre kriminell daran? Die Befragte hätte ihm die Nummer einfach nicht geben können. Und Punkt.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist, dass dem bayerischen SPD-Generalsekretär jetzt sogar Genossen zur Seite sprangen. Was der Spiegel mit einem „Igitt“-Moment wiedergibt – kaum verhohlen gegen „alte weiße Männer“ lästernd: „In der bayerischen SPD wird das Thema indes offenbar kontrovers diskutiert. Vor allem ältere, männliche SPD-Mitglieder finden die Anschuldigungen … überzogen.“
Nicht mit solchem Pipifax
Umso schöner, dass eine alte weiße Frau dem armen Generalsekretär zur Seite sprang und die Stimme der Vernunft erklingen lässt. Ex-SPD-Landeschefin Renate Schmidt sagte laut „Spiegel“: ‘Ich halte diese Vorwürfe gegen Arif Taşdelen für absurd‘…. Den SPD-Generalsekretär wegen der Vorwürfe auszusperren, finde sie ‘überzogen: ‘Ich würde mich freuen, wenn sich die Jusos mal politisch in einer Form äußern, die relevant ist. Nicht mit solchem Pipifax.‘“
Wenn ich Russinnen und Ukrainerinnen von den Sitten in Deutschland erzähle, schütteln die meist nur den Kopf – ebenso wie diejenigen, die sie selbst erleben in der Bundesrepublik. Auf meine Bitte um Erklärungsversuche, woher die Prüderie von Rotgrün kommt, bekomme ich von Russinnen und Ukrainerinnen am häufigsten die folgende Antwort – die ich mir selbst nie anmaßen würde, die ihnen aber zusteht: „Das ist der Neid und die Rache der Hässlichen“.
Kommentar meines Lektors: „Jetzt verstehe ich, warum die rotgrünen, woken Sozialisten sich für die „letzte Generation“ halten. Hat gar nichts mit dem Klima zu tun!“