Von Kai Rebmann
Besser hätte es für Brasiliens neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva kaum laufen können. Nur wenige Tage nach der Amtsübernahme des Kommunisten gehörte Frank-Walter Steinmeier zu den ersten Gratulanten seines Gesinnungsgenossen. Und natürlich reiste der Bundespräsident nicht mit leeren Händen an den Amazonas. Als Antrittsgeschenk gab es einen Scheck in Höhe von 35 Millionen Euro und freundliche Grüße vom deutschen Steuerzahler, wie mehrere Medien berichteten. Symbolisch dafür, welches Bild die meisten Gazetten ihren Lesern über das neue Brasilien vermitteln wollen, steht der „Stern“. Dort ist über die Freigabe der millionenschweren Entwicklungshilfe aus Deutschland zu lesen: „Lula hat ein starkes Engagement für den Schutz des Amazonaswalds versprochen, der für den Schutz des Erdklimas von zentraler Bedeutung ist. Unter seinem rechtsradikalen Amtsvorgänger Jair Bolsonaro war die Vernichtung dieses Walds rasant vorangeschritten.“
Dass der vorbestrafte neue Präsident in seiner Heimat aber mindestens ebenso umstritten ist wie der alte, die Umstände von Lulas hauchdünnem Wahlsieg höchst fragwürdig waren und Brasilien im Allgemeinen ein tief gespaltenes Land ist, wird in den meisten Medien nicht thematisiert. Als es dann am vergangenen Wochenende auch noch zum Sturm auf den Kongress und weitere Regierungsgebäude in der Hauptstadt Brasilia kam, schien die Sache klar. Bolsonaro soll seine Anhänger aus dem „Exil“ in Florida heraus zu dem „Staatsstreich“ angestachelt haben. Vergleiche mit dem Sturm auf das Kapitol in den USA drängten sich für viele geradezu auf, und natürlich ließ auch Lula diese Chance nicht ungenutzt verstreichen. Von „Faschisten“ und „Terroristen“ sprach der Präsident, die einen – so Lula wörtlich – „Völkermord“ („genocida“) geplant hätten.
Bolsonaro verurteilte den Aufstand in der Heimat
Richten wir den Blick deshalb also auf die andere Seite der Medaille, der den Lesern des Mainstreams leider regelmäßig verwehrt bleibt. Praktisch sofort nach den ersten Berichten über die Aufstände in Brasilia meldete sich Jair Bolsonaro via Twitter zu Wort. Der Ex-Präsident lobte friedliche Demonstrationen als einen wichtigen Teil der Demokratie. „Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute, aber auch bei linken Protesten 2013 und 2017 stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter“, ergänzte Bolsonaro. Haben Sie darüber in den letzten Tagen irgendwo etwas gelesen? Oder über die in dem Tweet erwähnten Proteste aus der Vergangenheit? Nein?
Das verwundert kaum, denn es wurde schlicht tabuisiert. Vielmehr entstand der Eindruck, dass derartige Szenen in Brasilien etwas ganz Neues seien. Im Jahr 2013 kam es zu gewalttätigen Protesten gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff, vier Jahre später waren es Polizisten, die den Kongress gestürmt hatten, um ihren Unmut über Reformpläne der Regierung kundzutun. Und auch im Jahr 2006 wurde das Parlament von Bauern besetzt, die mit der Gesamtsituation in ihrer Heimat alles andere als glücklich waren. Der wichtige Unterschied: Alle diese Aufstände waren stets vom linken Lager ausgegangen. Bolsonaros Hinweis auf „friedliche Demonstrationen“ bezog sich auf die Tatsache, dass zahlreiche seiner Anhänger seit der nunmehr zehn Wochen zurückliegenden Wahl vor Regierungsgebäuden und Einrichtungen des Militärs campieren und es dort während dieser Zeit nie zu irgendwelchen Zwischenfällen gekommen war.
Im Interesse der richtigen Einordnung der unschönen Bilder aus Brasilia wäre der Hinweis angebracht gewesen, dass die jetzt in höchstem Maße – und im Übrigen völlig zu Recht – angeprangerte Form des Protests in Brasilien mehr oder weniger „normal“ ist. Stattdessen wurde so getan, als sei man furchtbar davon überrascht, dass in Südamerika südamerikanische Verhältnisse herrschen.
Justizministerium soll Warnungen aus dem Bolsonaro-Lager ignoriert haben
Und auch die nicht nur berechtigte, sondern überaus drängende Frage nach den möglichen Hintergründen des vermeintlichen „Staatsstreichs“ in Brasilien wurde in den letzten Tagen nirgends gestellt, zumindest nicht in den hiesigen Medien. Wer allerdings ein wenig in Südamerika recherchiert, der stößt schnell auf Hinweise, die einen gänzlich anderen Ablauf der Ereignisse zumindest im Bereich des Möglichen erscheinen lassen. So machte unter anderem der Journalist José Aparecido auf aus seiner Sicht schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufmerksam. Ein hier veröffentlichtes Video zeigt zudem die vermeintlichen „Terroristen“. Man fühlt sich ein wenig an die „Kukident-Putschisten“ um Prinz Heinrich XIII. erinnert…
Inzwischen hat sich auch ein Mitglied der „Liga Conservadora Brasil Alemanha“ bei uns gemeldet und beklagt, dass „in den traditionellen Medien nicht über die echte Lage in Brasilien und Brasilia berichtet“ wird. Die Frau ist eigenen Angaben zufolge in Brasilien aufgewachsen und lebt seit sechs Jahren wieder in Deutschland. Sie beschreibt die Lage in Brasilien als „sehr komplex“ und weist darauf hin, dass seit dem Wochenende bis zu 1.500 Demonstranten ohne Anklage festgehalten werden. Aber lesen Sie am besten selbst, was die Leserin über die Zustände in ihrer ehemaligen Heimat zu berichten hat:
„Die Demonstranten haben vor dem HEAD Quarters des Militärs in Brasília gecampt, friedlich und ohne Zwischenfälle. Da das Gelände dem Militär gehört, durfte die Bundespolizei im Camp nicht einschreiten. Am Samstag wurde das Justizministerium informiert, dass einige Leute vorhätten, die Gebäude zu stürmen. Dennoch wurde nichts unternommen. Am Sonntag kamen viele Randalierer extra angereist, um sich unter die Demonstranten zu mischen, viele wurden auch von den „echten“ Demonstranten der Polizei übergeben, die versucht habe, die Zerstörung zu verhindern. Natürlich war die Menschenmenge im Rausch, aber die Randalierer gehörten nicht zu den Demonstranten, die seit 68 Tagen vor dem HQ beteten. Die Bundespolizei hat das Camp jetzt geräumt und den Demonstranten gesagt, sie würden in andere Bundesländer gebracht werden. Stattdessen wurden sie in eine Sporthalle gesperrt, ohne Wasser oder Nahrung. Darunter Senioren und Kinder. Eine 77-jährige ist dort angeblich verstorben. Heute wurden Senioren entlassen, aber die Angehörigen werden ins Gefängnis gebracht, die Kinder zum Jugendamt. Es gibt keinerlei Beweise, dass alle, die dort festgenommen wurden, Randalierer sind, denn die meisten sind nach der Tat zu den Bussen zurück und entkommen, aber ausgerechnet die, die 68 Tage friedlich demonstriert haben, werden jetzt wie Kriminelle behandelt. Es gibt viele Videos von Randalierern, allerdings werden diese in der Presse nicht gezeigt.“
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog. Bild: photocosmos1/ShuttserstockMehr von Kai Rebmann auf reitschuster.de