Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in meiner zweiten Heimat Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Hier ein Text aus dem Jahre 2004 – in dem es auch eine Szene aus der Ukraine beschrieben wird. Dass Moskau und Kiew einmal im Kriegszustand miteinander sein würden, konnte sich damals niemand auch nur im Traum vorstellen. Das beschriebene Phänomen ist immer noch aktuell. Voilà:
Weit nach Mitternacht und auf einsamer, finsterer Straße bremst die alte Taxifahrerin plötzlich ihren mutig dem Rost trotzenden Wolga scharf ab. „Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn wir warten“, zischt sie zwischen ihren Zahnlücken hindurch Richtung Rücksitz. Für einen Moment bekomme ich es mit der Angst zu tun. Hat sie gestoppt, weil hier, in einer schwach beleuchteten Vorstadt von Kiew, irgendwo ihre Komplizen im Gebüsch auf mich warten?
Doch die Taxifahrerin scheint nicht weniger erschrocken als ich – über meine dumme Frage. „Worauf wir warten?“ Sie sieht mich an wie einen Wilden, der zweimal zwei nicht zusammenzählen kann: „Du hast doch die Katze gesehen!“ Als ich immer noch ein verdutztes Gesicht mache, schüttelt sie ungläubig den Kopf: „Die schwarze Katze, die gerade vor uns über die Straße gelaufen ist! Wir müssen jetzt warten, bis ein anderer Wagen an dieser Stelle die Straße überquert – sonst bringt das Unglück“. Aber Gegenverkehr scheint rar zu sein zu dieser nächtlichen Stunde – und so wird der Aberglaube zur Geduldsprobe.
Ob in Russland, der Ukraine oder Georgien: Ausgerechnet auf dem einstigen Territorium des „wissenschaftlichen Marxismus“ ist das Vertrauen ins Übersinnliche allgegenwärtig. So gehört es selbst bei Wissenschaftlern zum guten Ton, dass man sich nicht über eine Türschwelle hinweg begrüßt – weil das zu Streit führt. Bei aller Liebe zur Technik aus dem Westen lassen neureiche Russen schon mal von Magiern Hühnerblut auf ihre Luxus-Limousinen streichen, um sie vor Diebstahl zu schützen.
Wettern und geifern
Mein Nachbar Arthur, der Pianist aus dem fünften Stock, war neulich entsetzt, als eine wildfremde Frau im Lift sein kleines Baby wild als „hässlich“ und „schrecklich“ beschimpfte. Nach dem Aussteigen klärte sie ihn dann flüsternd auf, das müsse sie aus Aberglauben tun – weil das Kleine so hübsch sei und Lob „schlechte Folgen“ habe. Wer jemandem Glück wünscht, muss ihn beschimpfen: So bitten Studenten vor Examen Verwandte und Bekannte, gegen sie zu wettern und zu geifern.
Die Kolleginnen einer Bekannten haben kürzlich die Wachsblumen aus ihrem Büro verbannt, weil das Gewächs angeblich die Männer verjagt: Mangelnder Besuch des anderen Geschlechtes war offenbar eine abschreckende Perspektive für die jungen Damen. Es muss wohl an der angeborenen Milde und Liebenswürdigkeit der russischen Frauen liegen, dass vom gegenteiligen Einsatz der Wachsblume – also zum gezielten Abhalten von Männern – bislang nichts bekannt ist.
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‘Letzter‘
Der Chef der Bekannten wollte sich nicht für das Intranet seiner Firma, einem modernen Technik-Unternehmen, fotografieren lassen: Aus Angst, böse Geister könnten über das Bild dunkle Kräfte zu ihm senden. Piloten der hochmodernen russischen MIGs und SUs haben weniger Angst vor ihren Feinden in der Luft als vor falscher Aussprache: Sie reden immer nur vom „vorherigen Flug“ – das Wort „letzter Flug“ würden sie nie in den Mund nehmen.
Zigtausende Autofahrer vertrauen statt auf so technisch kalte Dinge wie den Gurt lieber auf die schützende Kraft kleiner Ikonen und Kreuze, die sie unter den Rückspiegel hängen oder aufs Armaturenbrett kleben.
Ein deutsch-russisches Paar stand vor einer Ehekrise, als der germanische Gatte ein Messer unter den Weihnachtsbaum legte – nicht ahnend, dass Scharfes und Spitzes Unglück bringt. Zu brechen war der Fluch nur durch Ablass: Eine symbolische Kopeke als „Bezahlung“ für das Geschenk brach den Fluch und rettete den Ehefrieden.
Wenn die Pünktlichkeit in Russland nicht immer preußisches Kaliber hat, kann das gelegentlich ebenfalls am Aberglauben liegen: Wer bei Reisen auf Nummer sicher gehen will, muss sich vor der Abfahrt noch einmal schweigend für eine Minute mit seinen Nächsten niedersetzen. Wenn ein Taxifahrer plötzlich nur noch mit halber Kraft dahin kriecht, muss das nicht unbedingt daran liegen, dass ein Zylinder oder eine Zündkerze in dem alten Wolga den Geist aufgegeben haben, wovon ich mich vor vier Tagen auf der Krim überzeugen lassen musste: Vor uns quälte sich eine Beerdigungsgesellschaft mitsamt Leichenwagen in altersschwachen Bussen den Berg hoch – und so ein Gespann zu überholen, könnte Unheil bringen, erläuterte mir der Fahrer – erschrocken über meine Unkenntnis.
Für den weit verbreiteten Aberglauben in der früheren Sowjetunion gibt es verschiedene Erklärungen: Zum einen konnte die orthodoxe Kirche nie ganz die alten heidnischen Traditionen ausmerzen. Der Bauer bat in der Kirche ums Seelenheil und stellte einen Teller mit Brot vor die Haustür – als Opfer für die Geister, damit seine Kuh wieder gesund wurde. Zur Zarenzeit bekamen selbst die Kinder der gebildeten Oberschicht den Sinn fürs Übersinnliche von ihren bäuerlichen Kindermädchen eingebläut.
Armut als Grund für Magie- und Geisterglauben
Die Landflucht brachte immer mehr Dörfler in die Städte – und mit ihnen den Glauben ans Transzendente. Nach der Revolution 1917 kam es zu weiterem „Zivilisationsverlust“: Viele gebildete Städter waren emigriert, im Bürgerkrieg ums Leben gekommen oder siechten in Stalins Lagern vor sich hin. Damals wie heute dürfte auch die Armut ein Grund sein für den Glauben an Magie und Geister: Auf wen sonst soll man noch hoffen, wenn man etwa kein Geld hat für eine dringend benötigte Operation.
Dass der Aberglaube in Russland heute eine größere Rolle spielt als im Westen, liege wohl auch an der russischen Seele, glaubt zumindest der Moskauer Schriftsteller Viktor Jerofejew: Die sträube sich „gegen die westliche Logik und den kalten Rationalismus“. „Mit dem Verstand ist Russland nie zu begreifen, mit gewöhnlichem Maß nicht zu messen“, dichtete schon im 19. Jahrhundert der Fjodor Tjutschew.
Rasputin und eine georgische Zauberin
Der Glaube ans Übersinnliche macht auch vor den Mächtigen nicht halt. Selbst die Zarenfamilie suchte für den bluterkranken Kronprinz Alexej Anfang des 20. Jahrhunderts den Beistand des Wunderheilers Rasputin. Leonid Breschnew ließ sich von einer georgischen Zauberin die Zukunft vorhersagen, die später auch einen engen Draht zu Boris Jelzin hielt.
Der trinkfeste Kreml-Zar hielt sich einen Telepathen, der sein Flugzeug vor dem Start nach bösen Geistern und Kräften abklopfte. Einer von Jelzins Sicherheitschefs hatte einen besonderen Hang zum Übersinnlichen. Zur Informationsbeschaffung soll er zum Schrecken der Kreml-Mitarbeiter auf Gehirnstrom-Messungen gesetzt haben. Astrologie und Hexerei ersetzten nach Angaben von Insidern zuweilen politische Analysen.
Bösartige Gerüchte besagen, dass es selbst dem nüchternen Pragmatiker Putin schwer zusetzte, als ihm vor einigen Jahren bei einem Klosterbesuch ein alter, weiser Mönch ebenso vieldeutig wie finster vorhersagt haben soll, im Jahr 2004 werde bei ihm „Ruhe eintreten“. Fakt ist dagegen, dass unter dem Ex-KGB-Oberst die Realpolitik wieder über das Übersinnliche obsiegte.
Räucherstäbchen gegen die Lust
Doch nicht überall. Nach glaubwürdigen Berichten hat die russische Armee eigene Astrologen in ihren Reihen. Das Katastrophenschutz-Ministerium betreibt ein Labor für Übersinnliches. Ausgerechnet im Parlament stand Ende der 90er-Jahre bei einer Ausstellung von „Wundern der Technik“ ein „Heilsofa“: Mit Stein und Blei gefüllt sollte es „Raumenergie“ gegen knapp 100 Krankheiten bündeln – einschließlich Frigidität und Impotenz. Auch bei gegenteiligen Problemen setzen manche auf Übersinnliches: Um die Sünde eben dort auszutreiben, wo sie sitzt, wedeln Magier schon mal Frauen mit Räucherstäbchen zwischen den Beinen herum.
Obskure Wunderheiler lindern Schmerzen per Fernseher – einer von ihnen, Anatolij Kaschpirowskij, schaffte es gar als Volksvertreter ins Parlament. Sein Kollege Jurij Longo versprach gar Wunder biblischen Ausmaßes: Wie Jesus wollte er übers Wasser laufen – und suchte still und heimlich eine Firma, die Steine knapp unter der Wasseroberfläche verlegt.
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