Hier mein Video zum Thema mit Originaltönen von Putin und Prigoschin, für Sie übersetzt
*** Aktualisierung ***
Am Samstagabend meldeten die großen Nachrichtenagenturen, der Marsch auf Moskau sei abgeblasen, nachdem Prigoschin unter Vermittlung von Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko einen Kompromiss mit dem Kreml aushandelte. Prigoschin teilte in einer Audio-Botschaft mit: „Wir drehen die Kolonnen um und kehren in die Feldlager zurück, wie geplant.“ Die Ermittlungen gegen Prigoschin werden eingestellt, und der Söldner-Führer werde nach Weißrussland gehen, so Putins Sprecher Peskow laut RiaNosovti. Noch am Morgen hatte Putin in einer Fernsehansprache erklärt, die Bestrafung der Aufständischen sei unabwendbar.
*** Ende Aktualisierung ***
Es sind surreale Szenen, die da im Video zu sehen sind: Jewgenij Prigoschin, ein (früher?) enger Vertrauter von Putin, sitzt neben dem stellvertretenden Verteidigungsminister und dem stellvertretenden Chef des berüchtigten und mächtigen Militärgeheimdienstes GRU im südrussischen Rostow am Don auf einer Bank, hinter ihnen stehen Männer in Uniformen mit Waffen – offenbar Söldner Prigoschins. Prigoschin, Gründer und Chef der Söldnertruppe „Wagner“, maßregelt die beiden hochrangigen Militärs wie Schuljungen.
Dem stellvertretenden Verteidigungsminister hält er das vor, was Putins Anhänger hartnäckig bestreiten – dass die russische Armee die Zivilbevölkerung attackiere: „Sie zielen auf friedliche Leute, sie vernichten sie! Ihr habt gerade erst einen Bus voll mit Leuten vernichtet. Und sie haben keinerlei Gewissen gezeigt.“ Die Antwort des Vize-Ministers („Ich höre davon zum ersten Mal“) unterbricht Prigoschin: „Warum duzen Sie mich?“ Der Vize-Minister entschuldigt sich: „Habe ich doch gar nicht!“
A surreal video. Prigozhin negotiating in Rostov with MoD’s deputy ninister (left) and GRU’s deputy chief Alexeev. Tells them he wants to Shoigu and Gerassimov handed over, and until he gets them Wagner will occupy Rostov and march on to Moscow. pic.twitter.com/tOcFDZMek2
— Christo Grozev (@christogrozev) June 24, 2023
Prigoschin, dessen Männer zuvor den Stab der russischen Armee in Rostow besetzt haben und der jetzt die gesamte Millionenstadt am Fluss Don und unweit von der Front kontrolliert, erklärt den beiden mächtigen Männern dann im Stile eines Geiselnehmers seine Forderungen: „Ich bin gekommen, weil ich will, dass ihr uns den Generalstabschef (Gerassimow) und (Verteidigungsminister) Schojgu ausliefert. Solange wir die nicht bekommen, bleiben wir hier und blockieren Rostow und marschieren nach Moskau!“
Der Vize-Verteidigungsminister wendet verzagt ein, dass Prigoschin doch nur bluffe. Dessen Antwort: „Nein, wir bluffen nicht!“ Dann meint er kleinlaut, Prigoschin störe ihn beim Kommandieren seiner Truppen (die in der Ukraine sind). Darauf Prigoschin hart: „Wir stören euch nicht beim Kommandieren!“
Prigoschin, der als „Putins Koch“ bekannt wurde und dank seinem Freund Putin ein Milliardenvermögen machte, ist in dem Gespräch dominant, hat eine automatische Waffe umhängen, spricht laut, der Vize-Minister ist leise und kleinlaut, der Vize-Geheimdienstchef ebenso, beide sind zumindest dem Augenschein nach unbewaffnet. Diese Gesprächssituation zeigt deutlich, dass sich die beiden offenbar in Gewalt des Söldner-Chefs befinden, der in letzter Zeit keinen Hehl mehr aus einem Hass auf das Verteidigungsministerium gemacht hat. Er kündigt an: „Wir werden diese Schande für unser Land beenden!“ Und fügt hinzu: „Wenn Sie“ – also die Armee – „mit uns in einem normalen Ton reden würden, wären wir nicht mit Panzern hierher gekommen!“
Auf die schüchterne Nachfrage des Vize-Ministers, ob er glaube, alles richtig zu machen, antwortet Prigoschin entschlossen: „Absolut, weil wir Russland retten.“
Wütende Ansprache
Auslöser der Eskalation: Prigoschin warf dem Verteidigungsministerium vor, es habe seine Söldnertruppe unweit der Front bombardiert. „Sie sind in Bachmut gestorben, als sie die Ehre Russlands und der russischen Armee verteidigten. Sie wurden hinterhältig betrogen“, beklagte Prigoschin in einer dramatischen Ansprache, die im Internet zu finden ist. Was er dabei nicht sagte: Das Verteidigungsministerium hatte sich in einem Machtkampf mit ihm durchgesetzt, und seine Söldner hätten zum 1. Juli unter den Befehl seines Erzfeindes Schojgu kommen sollen. Insofern stand Prigoschin das Wasser bis zum Hals.
„Wir waren bereit, zu Kompromissen mit dem Verteidigungsministerium, die Waffen abzugeben und eine Lösung zu finden… aber dieser Abschaum, sie konnten sich nicht beruhigen, sie haben unsere Lager hinter der Front bombardiert und dabei eine riesige Zahl unserer Kämpfer umgebracht. Wir werden Entscheidungen treffen, wie wir auf diese Untat reagieren. Jetzt sind wir an der Reihe.“
Inzwischen ist klar, wie Prigoschin reagiert. Eine Kolonne seiner Kämpfer bewegt sich von Rostow Richtung Woronesch, Gerüchten zufolge sind sie bereits weiter auf dem Durchmarsch nach Moskau. Dabei soll es zu heftigen Gefechten mit der regulären Armee gekommen sein. Unbestätigten Berichten zufolge schoss ein Armee-Hubschrauber ein Öllager in Woronesch in Brand, damit es nicht in die Hände der Söldner gelangt.
Südlich von Moskau soll die Armee Verteidigungsstellungen errichten. In der Hauptstadt wurde faktisch der Ausnahmezustand verhängt. Alle Veranstaltungen für das Wochenende wurden abgesagt. Drei Hubschrauber sollten die Kolonne der Söldner bombardieren, wurden aber von diesen abgeschossen. Einer der abgeschossenen Piloten soll gesagt haben, man habe ihm erklärt, es handle sich bei dem Ziel um Ukrainer.
Moskau am Rande der Panik
Im Kreml herrscht Alarmstufe Rot. Wladimir Putin trat in einer Ansprache in den frühen Morgenstunden vor das Volk. Er sprach von einer „tödlichen Gefahr für Russland“. Ein bewaffneter Aufstand sei „eine tödliche Gefahr für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation“. Es sei „ein Schlag gegen das Volk“, so der sichtlich aufgebrachte Staatschef.
Es ist geradezu tragikomisch, dass Putin nun mit genau der Situation konfrontiert wurde, vor der er seit jeher besondere Angst hat: ein Aufstand. In früheren Reden warnte Putin regelmäßig davor, dass sich das Jahr 1917 wiederholen könnte, in dem eine kleine, aber entschlossene Minderheit mit einem Putsch die Macht an sich riss – Wladimir Lenin und seine Bolschewiki.
Viele Menschen in Moskau sind in Angst. Schon am Morgen bekam ich mehrere Nachrichten von Freunden und Bekannten aus der Hauptstadt, die ängstlich fragten: „Was ist los bei uns? Weißt du mehr als wir?“ Den Berichten der Freunde zufolge ist die Stadt quasi im Belagerungszustand, Militärfahrzeuge seien auf den Straßen, man komme nur noch schwer aus der Stadt heraus und in die Stadt hinein.
Noch ist es viel zu früh, um die weitere Entwicklung abzuschätzen. Klar ist aber auch: Es ist nicht auszuschließen, dass Putins Herrschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen könnte. Bislang gibt es kaum wirksamen Widerstand der regulären Armee gegen die Söldner, sie kommen in schier unglaublicher Geschwindigkeit voran gen Moskau. Indizien sprechen dafür, dass Putin die Hauptstadt bereits fluchtartig verlassen hat, was sein Sprecher Dmitri Peskow allerdings bestreitet,
Die Opposition glaubt, weite Teile der Truppe seien zu demotiviert und zu enttäuscht von Putin und der Führung, um gegen das Söldner-Heer von Prigoschin einzugreifen, der sich als Volkstribun inszeniert. Tatsächlich scheint die Macht Putins im Inneren ähnlich ausgehöhlt wie in der DDR in ihrer Endphase – was viele Beobachter im Westen sträflich unterschätzen. Und was vor allem an der ausufernden Korruption und Vetternwirtschaft liegt. Auch eine Kriegsmüdigkeit macht sich allmählich breit, obwohl es den staatlichen Medien lange recht gut gelungen ist, den Narrativ zu bedienen, dass Russland in der Ukraine nur Vorwärtsverteidigung betreibe.
Auch dieses Narrativ zerlegte jetzt der wütende Prigoschin. Das seien Lügen, sagte er, in Wirklichkeit sei der Krieg nur begonnen worden, weil Verteidigungsminister Schojgu unbedingt den Marschall-Titel bekommen wollte und das nur in einem Krieg möglich sei. Es habe keine Gefahr eines Angriffskriegs der Ukraine auf Russland gegeben, so Prigoschin explizit. Am Samstag legte er dann sogar noch einmal in einer Audio-Botschaft, einer direkten Reaktion auf Putins Ansprache und dessen Vorwurf, er sei ein Verräter: „Der Präsident irrt sich zutiefst. Wir sind die Patrioten des Vaterlandes. Wir wollen nicht, dass dieses Land weiter in Korruption, Lüge und Bürokratie lebt. Jene, die gegen uns sind, haben sich um die Schweinehunde versammelt.“
Auffallende Zurückhaltung
Für Putins Verteidiger und Fürsprecher im Westen und in den Medien ist das ein harter Schlag. Entsprechend zurückhaltend wird dort auch über die aktuelle Entwicklung berichtet.
Dabei ist es extrem alarmierend, wenn die zweitgrößte Atommacht der Erde faktisch am Rande eines Bürgerkrieges steht, bzw. diesen Rand schon überschritten hat. Ob Prigoschin im Kreml, im Gefängnis oder auf dem Friedhof landet oder doch noch ein Kompromiss erzielt wird, ist momentan seriös nicht abzuschätzen. Experten, die da jetzt im Brustton der Überzeugung Prognosen abgeben, wie sie in den Medien zu lesen sind, bewegen sich in meinen Augen auf dünnem Eis. Sicher ist nur eines: Die vermeintliche innenpolitische Stabilität in Moskau ist eine Illusion. Die Machtbasis von Putin ist wackelig, weil sie nicht auf Institutionen und Gesetzen beruht, sondern wie bei einem Wolfsrudel auf Dominanz.
Ich will hier nicht als Rechthaber dastehen – aber genau vor dem, was wir jetzt erleben, warne ich seit vielen Jahren in meinen Büchern (siehe hier) und Artikeln. Leider sehen zu viele weg. Die einen jahrelang wegen der Geschäfte mit Russland, die anderen, weil sie der (menschlich nachvollziehbaren) Illusion erliegen, ausgerechnet der KGB-Mann Putin sei eine Alternative zu der unsäglichen Entwicklung im Westen.
Klar ist auch: Sollte der Hardliner Prigoschin, der in jungen Jahren wegen organisiertem Verbrechen im Gefängnis saß, statt erneut im Gefängnis im Kreml landen, ist völlig unklar, wie es mit Russland weitergeht. Es sind die unterschiedlichsten Szenarien möglich. Von einer Annäherung an den Westen bis zu einer Verschärfung der Gegensätze. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass der Kreml-Chef zur Abwehr der akuten Gefahr zu unschönen Mitteln greift, die weitreichende Folgen für die internationale Sicherheit haben. Es sind ungute Zeiten. Gnade uns Gott!
Hier mein Video zum Thema mit Originaltönen von Putin und Prigoschin, für Sie übersetzt
Laut dem Sender RTVI werden in Moskau Muldenkipper mit Sand zu den Zufahrten der Stadt gefahren, einige Fahrspuren wurden mit Müllwagen und Lastwagen blockiert. Wenn das zutrifft, könnte es darauf hindeuten, dass das Verteidigungsministerium ziemlich blank ist.
Bislang gab es… pic.twitter.com/NJBde391FF— Boris Reitschuster (@reitschuster) June 24, 2023
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