Der „Schwedische Weg“ – was die Zahlen sagen Analyse der Sterbestatistik

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger

„Ach, was muss man oft von bösen
Kindern hören oder lesen!“

So beginnt Wilhelm Busch seine Geschichten über die Bösewichte Max und Moritz, und tatsächlich mag sich der eine oder andere bei diesen Zeilen an die gegenwärtige Situation erinnert fühlen. Nicht nur, dass die Menschen von sogenannten verantwortlichen Politikern wie unmündige Kinder behandelt werden, die man mit einem seltsamen System aus Lohn und Strafe auf den rechten Weg führen will, man findet auch immer wieder Gelegenheit, mit ausgestrecktem Finger auf die Übeltäter zu deuten, die sich mit böswilligen Demonstrationen oder fast noch böswilligeren kritischen Fragen als nicht hilfreich erweisen.

Doch die schlimmsten Bösewichte scheinen sich in Schweden aufzuhalten, wo man auf harte Maßnahmen, auf monatelange Lockdowns, auf Maskenpflicht einfach verzichtet hat, obwohl Karl Lauterbach es doch besser wusste und des Mahnens nicht müde wurde. Seit etwa einem Jahr konfrontiert man die Schweden – und vor allem auch die Deutschen – mit der Tatsache, dass der schwedische Sonderweg gescheitert und die Lage katastrophal sei.

Ist das wahr? Werfen wir einige Blicke auf die relevanten Daten des statistischen Zentralamtes Schwedens (abgerufen am 23.2.2021) und fangen dabei vorsichtig an. Zu Beginn des Jahres 2020 hatte Schweden 10.327.589 Einwohner zu verzeichnen. Gestorben sind in diesem Jahr 98.124 Menschen. Berechnet man die Anzahl der Sterbefälle pro 10.000 Einwohner, so kommt man auf 95,01 – damit auch Politiker und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mitlesen können: Man rechnet dazu 98.124/10.327.589*10.000. Nimmt man nun die entsprechenden Daten des deutschen Statistischen Bundesamtes zur Hand, muss man feststellen, dass hierzulande etwas mehr als 118 Sterbefälle pro 10.000 Einwohner im Jahr 2020 zu beklagen waren. Das ist offenbar mehr als in Schweden, und es ist deutlich mehr. Gäbe es einen schwedischen Karl Lauterbach, so müsste er jetzt lautstark und beharrlich verkünden, der deutsche Weg sei gescheitert und nur im schwedischen Weg liege das Heil.

Ist dieser Schluss zulässig? Wohl kaum. Um festzustellen, ob ein Land mit seinem Maßnahmenpaket gute Ergebnisse erzielt hat, muss man die Daten des Jahres 2020 mit denen vorhergehender Jahre vergleichen und nicht mit denen anderer Länder, in denen andere Verhältnisse vorherrschen. Deshalb ist ein direkter Vergleich der beiden angegebenen Werte sinnlos, genau wie ein Vergleich der schwedischen Sterbefälle mit denen aus Norwegen oder Finnland. Wissen sollte man, ob 2020 in Bezug auf die schwedische Sterblichkeit ein auffällig schlechtes Jahr war, verglichen mit früheren Jahren in Schweden. Sehen wir also zu, was sich ergibt.

Die folgende Tabelle zeigt für die Jahre 2006 bis 2020 die Zahl der Sterbefälle in Schweden, sowohl die absoluten Zahlen als auch die Fälle pro zehntausend Einwohner.

Sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen ist ein starker Sprung zwischen 2019 und 2020 zu bemerken, aber die Daten der vorhergehenden Jahre zeigen, dass im Jahr 2019 eine außerordentlich niedrige Sterblichkeit vorgelegen hat, sodass 2020 tatsächlich mit einem Nachholeffekt gerechnet werden musste: Sterben in einem Jahr deutlich weniger Menschen, als zu erwarten war, so sind im nächsten Jahr mehr Menschen mit hohem Sterblichkeitsrisiko vorhanden. Unabhängig davon lag die relative Sterblichkeit in den Jahren 2006 bis 2012 höher als 2020, weshalb 2020 in der Rangfolge der relativen Sterblichkeiten einen Mittelplatz einnimmt.

Den Nachholeffekt sieht man noch deutlicher, sobald man die Sterbefallzahlen und die Sterblichkeiten nicht mehr jährlich betrachtet, sondern in Zwei-Jahres-Zeiträumen.

In den beiden Jahren 2007 und 2008 sind somit insgesamt 183.178 Menschen verstorben. Gemessen an den zu Beginn des Jahres 2007 vorhandenen Einwohnern sind das 201,00 Sterbefälle pro 10.000 Einwohner. Verwendet man als Basisgröße nicht die Einwohnerzahl zu Beginn des Zeitraums, sondern den Durchschnitt der Einwohnerzahlen aus 2007 und 2008, erhält man in der letzten Spalte 200,24 Sterbefälle pro 10.000 Einwohner. Welchen Basiswert man nimmt, spielt aber keine Rolle, denn man sieht deutlich, dass die relative Sterblichkeit in Zwei-Jahres-Zeiträumen kontinuierlich sinkt, auch noch im Zeitraum 2019/2020. Die erhöhte absolute Sterblichkeit des Jahres 2020 ist also mit der Entwicklung der Bevölkerungszahlen und dem Nachholeffekt aufgrund des sehr milden Jahres 2019 vollständig erklärbar.

Nun genügt es aber nicht, sich nur auf die Bevölkerungszahlen der jeweiligen Jahre zu stützen, denn auch die Verteilung der Altersgruppen innerhalb der Bevölkerung spielt offenbar keine geringe Rolle bei der Frage der Sterblichkeiten. Man sollte daher die demographische Entwicklung in Augenschein nehmen und genauer darauf achten, wie viele Sterbefälle in den einzelnen Altersgruppen auftreten, gemessen an der Bevölkerungszahl innerhalb dieser Gruppen. In einem früheren Artikel hatte ich am Beispiel Deutschlands schon die Vorgehensweise erklärt; da man aber niemanden dazu zwingen sollte, alte Artikel zu lesen, werden die Berechnungen auch hier noch einmal erläutert. Zunächst die zugehörige Tabelle, auf die ich gleich noch näher eingehen werde.

Die Tabelle ist schnell an einem Beispiel erklärt. Den Daten des statistischen Zentralamtes Schwedens (abgerufen am 23.2.2021) kann man entnehmen, dass sich beispielsweise zu Beginn des Jahres 2017 603.816 Menschen in der Altersgruppe „75 bis 84 Jahre“ befanden, und dass in dieser Gruppe im Lauf des Jahres 24.498 Sterbefälle zu verzeichnen waren. Der prozentuale Anteil der Verstorbenen beläuft sich dann auf 24.498*100/603.816=4,057, gerundet auf drei Nachkommastellen. Genau diese Zahl findet man in der entsprechenden Zeile für das Jahr 2017, und auf diese Weise berechnen sich auch alle anderen Einträge.

Man kann nun der Frage nachgehen, wie sich die in früheren Jahren aufgetretenen Prozentsätze Verstorbener denn im Jahr 2020 auf die absoluten Zahlen der Sterbefälle ausgewirkt hätten, wenn man die Verteilung der Gesamtbevölkerung des Jahres 2020 auf die Bevölkerungsgruppen zugrunde legt. Das führt zu der folgenden Tabelle, die ich gleich noch erläutern werde.

Ein Beispiel: Wie gerade berechnet, gab es 2017 in der Altersklasse „75 bis 84 Jahre“ eine prozentuale Sterblichkeit in Höhe von 4,057 %. Zu Beginn des Jahres 2020 befanden sich in dieser Altersklasse 701.648 Menschen. Hätten nun 2020 die gleichen Sterblichkeitsquoten wie 2017 vorgelegen, so käme man in dieser Altersklasse auf knapp 28.470 Tote für das Jahr 2020. So kann man für jede Altersgruppe und jedes Jahr rechnen und dann die Daten der einzelnen Gruppen zu einer Gesamtsterblichkeit aufaddieren. Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Hätten 2020 beispielsweise die gleichen Prozentsätze Verstorbener pro Altersgruppe wie in dem sehr milden Jahr 2019 vorgelegen, so wären 90.827 Todesfälle im Jahr 2020 aufgetreten, deutlich weniger als in der Realität. Legt man allerdings die prozentualen Verhältnisse der Jahre 2006 bis 2015 zugrunde, stellt man fest, dass die daraus folgende Zahl der Sterbefälle – bei gegebener Verteilung der Altersgruppen – jeweils höher war als 2020, teilweise sogar deutlich höher. Die vier Jahre von 2016 bis 2019 waren milder, 2019 sogar uneinholbar mild, womit das Katastrophenjahr 2020, das Jahr des angeblich gescheiterten schwedischen Sonderweges, in der Reihe der Jahre 2006 bis 2020 den fünften Platz belegt, zehn Jahre zeigten härtere Sterbequoten. Ein auffälliges oder gar katastrophales Jahr sieht anders aus.

Die letzte Tabelle bezieht sich nur auf den Vergleich der Gesamtsterbezahlen pro Jahr bei normierten demographischen Voraussetzungen. Nichts spricht dagegen, auch die einzelnen Altersgruppen einer genaueren Inspektion zu unterziehen. Und dabei fällt auf, dass nicht allzu viel auffällt. In keiner einzigen Altersgruppe findet man 2020 einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz an Verstorbenen, nicht ein einziger der berechneten Werte fällt aus dem Rahmen der vorangegangenen Jahre. Stark aus dem Rahmen fällt dagegen das Jahr 2019, vor allem im Hinblick auf die Altersgruppen ab 75 Jahre, in denen 2019 außerordentlich geringe Sterberaten verzeichnet werden konnten. Aber das Alter lässt sich nicht überlisten, jedenfalls nicht lange: So erklären sich die höheren Sterberaten in dieser Altersklasse im Jahr 2020, wir hatten es schon. Erhöht sind sie aber nur im Vergleich zum extrem milden Jahr 2019, der Vergleich mit den Jahren vor 2019 charakterisiert 2020 als durchschnittlich und keineswegs außergewöhnlich, auf keinen Fall als katastrophal.

Noch deutlicher sieht man das, wenn man die Tabellenwerte ein wenig zusammenfasst.


Die Daten sprechen für sich. Im Vergleich mit allen Daten der Jahre 2006 bis 2019 liegt das Jahr 2020 mit seinen Sterbefallraten in manchen Altersgruppen nahe am Minimum, einmal sogar darunter, und nie über dem Maximum der früheren Jahre. Noch deutlicher wird es, wenn man die Sätze von 2020 vergleicht mit denen der Jahre von 2006 bis 2018, denn der unvermeidbare Nachholeffekt von 2019 auf 2020 macht einen Vergleich mit 2019 weitgehend sinnlos. Auch in diesem Fall hat man eher günstige Prozentsätze, und auch in den höheren Altersklassen sind keine Ausreißer zu verzeichnen: 2020 war in keiner Hinsicht auffällig.

Wer sich dem Abgleich von größten und kleinsten Werten nicht unterziehen mag, kann es gerne auch mit den durchschnittlichen Sterberaten versuchen, die man in der folgenden Tabelle findet. Er wird allerdings nichts anderes feststellen.

An der Bewertung ändert das nichts: 2020 war im Hinblick auf die Sterblichkeit in Schweden kein auffälliges Jahr, nicht sehr gut und schon gar nicht sehr schlecht. Von einer Übersterblichkeit kann keine Rede sein.

Das Jahr hätte milder sein können; niemand bestreitet das, schon gar nicht die Schweden, die ihre Fehler aus dem Frühjahr 2020 erkannt, benannt und korrigiert haben – sehr im Gegensatz zu Deutschland, wo man in Anbetracht eines kaum noch in Worte zu fassenden Regierungsversagens mit der Floskel beruhigt wird, im Großen und Ganzen sei nichts schief gelaufen. Welchen tatsächlichen Effekt Vorsichts- und Schutzmaßnahmen für die Alten- und Pflegeheime bereits im letzten Frühling gehabt hätten, kann niemand wissen; man darf nicht vergessen, dass 2020 in Schweden ein insgesamt unauffälliges Jahr und der Nachholeffekt aus dem milden Jahr 2019 kaum zu vermeiden war. Man kann nicht ausschließen, dass auf diese Weise aus einem durchschnittlichen Jahr ein weiteres mildes Jahr geworden wäre, beweisen kann man es auch nicht. Der Vergleich mit den Jahren von 2006 bis 2018 zeigt allerdings, dass solche Vorsichtsmaßnahmen schon früher nicht in Betracht gezogen wurden, denn auch in den Altersgruppen ab 75 Jahre fällt 2020 nicht im Mindesten aus dem Rahmen der Vorjahre.
Das Fazit der bisherigen Betrachtungen fällt leicht:

  1. Dass die absolute Zahl der Sterbefälle 2020 auf den ersten Blick hoch erscheint, liegt an dem außerordentlich milden Jahr 2019, dem daraus resultierenden Nachholeffekt im Jahr 2020 und der Entwicklung der Bevölkerungszahlen.
  2. Berücksichtigt man die Anzahl der Einwohner eines jeweiligen Jahres sowie die Verteilung der Altersgruppen auf die Menge aller Einwohner, so liegt 2020 auf dem fünften Platz der Jahre 2006 bis 2020. Zehn Jahre waren härter.
  3. Betrachtet man auch noch die einzelnen Altersgruppen, so stellt sich heraus, dass die Sterblichkeitsraten 2020 in keiner Altersgruppe in irgendeiner Weise auffällig waren.

Um aus diesen Resultaten ein „Scheitern des schwedischen Sonderweges“ abzuleiten, ist eine Laufbahn als Politiker oder als Journalist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sicher hilfreich. Allen anderen dürfte es schwerer fallen.

Kommen wir am Ende noch zu etwas vermeintlich völlig anderem: zur Grippe, genauer gesagt zur Influenza und nicht zum grippalen Infekt. Die findet seit geraumer Zeit in Deutschland nicht mehr statt, seit der fünfzehnten Kalenderwoche des Jahres 2020 ist keine nennenswerte Zahl echter Grippefälle mehr aufgetreten. Interessierte Kreise halten das gerne den restriktiven Maßnahmen zugute: „Die Maßnahmen wirken, das zeigt der Rückgang anderer Krankheiten … normalerweise haben wir jedes Jahr eine Grippewelle, im Moment sehen wir nur 20 bis 30 Grippefälle“, sagte beispielsweise RKI-Chef Lothar Wieler, bekannt für seine unbedingte Unabhängigkeit gegenüber der Bundesregierung. Auch Journalisten verschiedenster Art greifen immer wieder gern zu diesem Argument. Es ist aber seltsam: Weil die Maßnahmen so gut wirken und weil sich die Menschen so diszipliniert verhalten, haben Grippeviren keine ernsthafte Chance auf Verbreitung. Und weil die Maßnahmen nicht hart genug sind und die Menschen sich so undiszipliniert benehmen, kann sich SARS-CoV-2 nach Lust und Laune ausbreiten, sofern man denn einem Virus Lust und Laune unterstellen will. Schon das passt nicht ganz zusammen. Das ist nicht alles. Seit der neunzehnten Kalenderwoche 2020 scheinen sich die Grippeviren auch in Schweden in den Ruhestand verabschiedet zu haben; nur 11 Fälle sind von Woche 19 bis Woche 53 insgesamt dort aufgetreten, im neuen Jahr 2021 wurden bisher neun weitere registriert. Woran liegt das? Es liegt nicht daran, dass Schweden einem Lockdown unterliegt, denn der wurde nicht verhängt. Es liegt nicht daran, dass alle und jeder mit Masken herumlaufen, denn eine Maskenpflicht gibt es dort nicht, und die Empfehlung, in öffentlichen Verkehrsmitteln Masken zu tragen, wird befolgt oder auch nicht. Es liegt nicht daran, dass Geschäfte und Restaurants seit Monaten geschlossen sind, denn eine solche Schließung gab es nicht, wenn auch Restriktionen für den laufenden Betrieb. Kurz gesagt: Es liegt nicht an den harten Maßnahmen, auf die man in Deutschland so stolz ist und die kein anderes Ergebnis haben als den Ruin der Volkswirtschaft und die Verängstigung und Einschüchterung der Menschen, denn in Schweden hat man zu solchen Maßnahmen nicht gegriffen. Resultat war ein schwedisches Jahr 2020, in dem es zu keiner Übersterblichkeit kam und in dem – wie auch in Deutschland – die Grippe ganz ohne übergriffige Maßnahmen allem Anschein nach verschwunden ist.

Wer nun den Eindruck hat, nicht der schwedische, sondern der deutsche Weg sei gescheitert – und mit ihm noch manch anderer –, der mag sich in Bezug auf Deutschland an eine andere Stelle aus dem erwähnten Werk von Wilhelm Busch erinnern:

„Aber wehe, wehe, wehe!
Wenn ich auf das Ende sehe!“

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

 

 

Bild: Alexanderstock23/Shutterstock
Text: Gast 

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