Von reitschuster.de
Warum ein Problem lösen, wenn man es einfach umbenennen kann? Diese Frage stellt sich nicht nur in den staubigen Archiven der Bürokratie, sondern auch in den hochmodernen Krisenzentren unserer Hauptstadt. Das jüngste Beispiel liefert die Berliner Feuerwehr mit der Umbenennung des wenig charmanten „Ausnahmezustands Rettungsdienst“ in das erheblich wohlklingendere „Auslastungsstufe Rettungsdienst 3“. Der Begriff klingt, als ob wir nur ein wenig überbucht wären – vielleicht wie ein schickes Hotel während der Fashion Week.
Die Idee, Probleme durch clevere Begriffsänderungen zu lösen, hat nicht nur in der Verwaltung Tradition. Bereits in sozialistischen Systemen war es gang und gäbe, die Wirklichkeit durch Sprachakrobatik zu verschleiern. Dort hieß es nicht etwa „Lebensmittelknappheit“, sondern „temporäre Versorgungsengpässe“. Und natürlich gab es auch keinen Mangel an Wohnungen, sondern „Kommunalkas“ (auf Deutsch „Kommunalwohnungen“) – Zwangs-WGs, in denen mehrere Familien in eine Wohnung gepfercht wurden. Man fragt sich, ob die Berliner Feuerwehr hier ein wenig Inspiration aus der Geschichte gezogen hat.
Doch die Feuerwehr ist bei weitem nicht die einzige Institution, die das Problemumbenennen zur Lösung erklärt hat. Der Trend zieht sich durch alle Ebenen der politischen Kommunikation. So werden aus „Asylanten“ mittlerweile „Geflüchtete“, was die Brisanz des Themas sprachlich gleich etwas mildert. Denn „Flüchtende“ klingt dynamischer, weniger passiv. Oder nehmen wir den allgegenwärtigen „Klimawandel“, der kurzerhand zur „Klimakrise“ wurde – das klingt nach mehr Dringlichkeit und Handlungsbedarf, auch wenn die Maßnahmen oft dieselben bleiben. Diese Art von sprachlichen Neuschöpfungen ist längst zur rhetorischen Kunstform geworden: Probleme werden neu verpackt, sodass sie in den Nachrichten weniger unangenehm erscheinen. So können wir uns zumindest einreden, dass wir etwas getan haben, auch wenn in Wirklichkeit meist alles beim Alten bleibt.
Wenn das so gut funktioniert, warum sollten wir bei den Rettungsdiensten aufhören? Nehmen wir doch das leidige Thema Messerattacken. Statt von „Messerangriffen“ zu sprechen, was ja geradezu bedrohlich klingt, könnten wir es zukünftig „spontane Klingen-Interaktionen“ nennen. Das macht die Sache doch gleich viel entspannter. Vielleicht könnte man im gleichen Zug auch noch einen freundlichen Hinweis auf die „stabile Seitenlage“ hinzufügen. Schließlich wird hier nur ganz kurz und spontan interagiert.
Apropos spontane Aktionen: Die allgegenwärtige Wohnungsnot könnte auch einen sprachlichen Neuanstrich vertragen. Anstatt „Obdachlosigkeit“ sollten wir einfach von „temporärer Freiluftbewohnung“ sprechen. Es klingt fast, als handele es sich um ein exklusives Outdoor-Abenteuer, das von mutigen Großstädtern freiwillig gewählt wird. „Eins mit der Natur“, könnte man sagen.
Und wenn wir schon dabei sind, sollten wir nicht die Deutsche Bahn vergessen. Wer kennt es nicht: Man wartet auf den Zug, der mal wieder Verspätung hat. Aber warum sich darüber aufregen? Diese Momente bieten doch eine wunderbare Gelegenheit für eine „ungeplante Entspannungsphase“. Bahnverspätungen könnten von nun an als Zeitfenster für Meditation vermarktet werden. Der Bahnsprecher kündigt dann nicht mehr genervt eine Verspätung an, sondern: „Sehr geehrte Fahrgäste, freuen Sie sich auf 30 Minuten Achtsamkeitstraining.“
Noch besser: Man könnte ein Abo-Modell für Vielreisende einführen. Für nur 9,99 Euro pro Monat erhalten Sie Zugang zu „exklusiven Entschleunigungsmöglichkeiten“. Die Bahn könnte Verspätungen als Beitrag zur Work-Life-Balance verkaufen. Und wer genug entspannt hat, kann die Baustellen entlang der Strecke als „interaktive Bahnerlebniswelt“ genießen. Schließlich erlaubt ein langsamer vorbeifahrender Zug einen genauen Blick auf Deutschlands innovative Baustellenkultur – ein kostenloser Baustellen-Sightseeing-Service sozusagen.
Ähnliches gilt für die berüchtigte Schuldenkrise. Stattdessen könnten wir doch einfach von einer „finanziellen Balancephase“ reden. Jeder weiß schließlich, dass in der Balancephase nur kurz der Überblick verloren geht, bis sich das Gleichgewicht wiederfindet – oder auch nicht, aber das tut ja nichts zur Sache.
Doch zurück zur Feuerwehr: Während die Umbenennung von „Ausnahmezustand“ in „Auslastungsstufe 3“ möglicherweise für einen Moment die aufgerissenen Augen der Bürger beruhigen mag, wird sich in der Realität nichts ändern. Wie ein Sprecher der Gewerkschaft so treffend bemerkte: „Die Menschen sind nicht doof.“ Die Rettungswagen sind immer noch dieselben, die Notfälle ebenso zahlreich wie zuvor. Was bleibt, ist die Frage, warum es den Verantwortlichen so wichtig war, dem Kind einen neuen Namen zu geben, wenn doch inhaltlich keine bahnbrechenden Veränderungen in Sicht sind.
Aber vielleicht ist es genau das: die Kunst des Umbenennens. Schon in früheren Jahren hat die Berliner Feuerwehr gezeigt, dass sie sprachlich kreativ ist. So wurde die wenig populäre „Nachtabsenkung“ – die Reduzierung des nächtlichen Feuerwehrpersonals – kurzerhand in „Tagesverstärkung“ umgetauft. Klingt viel positiver, auch wenn es dasselbe bedeutet. Leider hat sich der Begriff bis heute in der Belegschaft nicht durchgesetzt, was einmal mehr zeigt: Nicht alles lässt sich durch eine neue Wortwahl lösen.
Letztlich steht man also wieder vor dem alten Dilemma: Es mangelt an Ressourcen, Rettungswagen und Personal. Und da die desolate Haushaltslage keine schnellen Verbesserungen verspricht, bleibt am Ende nur ein „neuer Begriff“ als Lösungsversuch. Vielleicht sollten wir diese Methode einfach konsequent auf alle Lebensbereiche anwenden. Probleme? Fehlanzeige – wir haben doch die passenden Begriffe dafür! Ganz im Sinne des alten Werbeslogans: „Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix.“
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