Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Nun hat die CDU-Fraktion gesprochen. „Mit großer Mehrheit“, so vermeldet der bayerische Rundfunk, habe sie sich „dafür ausgesprochen, am Freitag im Bundestag für das umstrittene Rentenpaket zu stimmen. Es war aber nach einer Probeabstimmung von etwa 15 Gegenstimmen und einzelnen Enthaltungen die Rede“. Bei der „Welt“ wollte man sich nicht festlegen und berichtet, manche Teilnehmer hätten von 10, andere gar von 20 Gegenstimmen gesprochen. „Nius“ dagegen verrät uns, dass „bei einer Probe-Abstimmung exakt 21 Unionsabgeordnete gegen das Rentenpaket gestimmt“ haben, zu denen sich noch eine Enthaltung gesellte.
Die unterschiedlichen Zahlenwerte kann ich keinem vorwerfen: verschiedene Quellen, verschiedene Zahlen. Doch die Begleitumstände verdienen ein wenig Aufmerksamkeit, die ich auf die drei Phänomene Erbärmlichkeit, verfassungswidrige Anmaßung und Strafbarkeit richten will.
Ich beginne mit der Erbärmlichkeit. Es soll Äußerungen aus der Unionsfraktion geben, man wolle „trennen zwischen der Abstimmung in der Fraktion und der Abstimmung im Plenum. Die Sprache lautet dann: In der Fraktion hat man kraftvoll seine Ablehnung zum Ausdruck gebracht, aber in der parlamentarischen Schlussabstimmung schließt man sich dem Mehrheitsvotum der Gesamtfraktion an“. Sollte sich das bewahrheiten, läge eine fatale Mischung aus Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit vor. Derartiges erinnert an das Verhalten linksorientierter Politiker, die nach außen hin gern von Vielfalt und Buntheit reden, ihre eigenen Kinder aber in die behütete Privatschule schicken. Eine Ablehnung in der Fraktion soll „kraftvoll“ sein? Und dann, wenn’s zum Schwur kommt, hebt man im Bundestag doch brav die Hand, um weder die Katastrophenkoalition noch die eigene Karriere zu gefährden? Mir erschließt sich nicht, wie man darauf kommen kann, dass diese politische Schizophrenie unbemerkt bleiben könnte. Sollten die Abweichler tatsächlich auf diese ungemein kraftvolle Weise ein Zeichen setzen, dann machen sie sich nur lächerlich und können sich vielleicht bei ihrer Fraktionsführung einschmeicheln, verlieren aber dafür jeden Rest von Respekt, den etwaige Wähler vielleicht noch gehegt haben mögen.
Nun zur Anmaßung. In der „Welt“ ist nachzulesen: „Sollten Abgeordnete ein abweichendes Abstimmungsverhalten planen, muss das laut Geschäftsordnung der Fraktion bis spätestens 17 Uhr des Tags vor der Abstimmung beim Parlamentarischen Geschäftsführer angezeigt werden. Nach WELT-Informationen hat Fraktionschef Jens Spahn die möglichen Rebellen gebeten, das bis Mittwoch, 12 Uhr, anzuzeigen.“ Der CDU im Allgemeinen und Spahn im Besonderen darf ich einen Blick in das Grundgesetz empfehlen. Dort heißt es in Artikel 38: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Ihrem Gewissen sind sie unterworfen und keinem sonst, weder Jens Spahn noch der Geschäftsordnung der Unionsfraktion. Immerhin wäre es denkbar, dass einer der Abgeordneten noch nach Mittwoch, 12 Uhr, oder nach Donnerstag, 17 Uhr, von seinem Gewissen geplagt wird und sich für ein anderes Abstimmungsverhalten entscheidet. Das ist sein im Grundgesetz verbrieftes Recht, das kein Spahn und keine Geschäftsordnung außer Kraft setzen kann. Sollte man bei der Unionsfraktion anderer Meinung sein, darf ich an das Bundesamt für Verfassungsschutz die Aufforderung richten, diese allem Anschein nach verfassungsfeindlichen Gesellen einmal unter die Lupe zu nehmen.
Spahn selbst hatte sich schon am Sonntag in der ARD zu der Frage geäußert, ob er denn wohl den Abweichlern mit wenig aussichtsreichen Listenplätzen bei der nächsten Wahl gedroht habe. „So konkret habe ich das nicht,“ meinte er. „Ich führe einfach freundliche, klare Gespräche, ich drohe nicht.“ Aber über „Szenarien und Konsequenzen“ sei gesprochen worden. Wie schön er das formuliert hat! So konkret hat er also nicht gedroht, aber etwas inkonkreter wohl schon, denn was sollte ein Gespräch über Szenarien und vor allem Konsequenzen wohl sonst beinhalten als Drohungen?
Immerhin ist er ein wenig im Vagen geblieben, was man von seinem Herrn und Meister Friedrich Merz nicht behaupten kann – womit ich zum dritten Punkt komme: der Strafbarkeit. Ich will mich gar nicht lange darüber aufhalten, dass er den Abgeordneten klargemacht hat, die Abstimmung zum Rentenpaket sei keine Gewissensentscheidung. Woher sollte der Jurist Merz auch den Artikel 38 des Grundgesetzes kennen, der Aufträge und Weisungen an Abgeordnete untersagt und jede ihrer amtlichen Entscheidungen zur Gewissensentscheidung erklärt? Aber er hat sich zu noch größerer Deutlichkeit hinreißen lassen. Es gibt leichte Unterschiede in den Quellen. Die einen sagen, er habe während der Sitzung geäußert, er sehe, wer nicht klatsche. Bei anderen wird die Äußerung als „Ich sehe genau, wer klatscht“ überliefert. Und in der „Welt“ findet man die Satzversion, er sehe genau, wer klatsche und wer nicht. Es spielt keine Rolle. In jedem Fall handelt es sich um eine politische Version des beliebten Satzes, „Ich weiß, wo du wohnst“ oder „Ich weiß, wo deine Familie wohnt“, den man in einschlägigen Kreisen gerne als sanfte Mahnung zu Wohlverhalten einsetzt. „Ich sehe, wer klatscht“ heißt: Ich sehe, wer sich unbotmäßig verhält, ich sehe, wer nicht mit uns stimmen will. Filipp Piatov von der Bild-Zeitung meinte dazu: „Abgeordnete verstehen diesen Satz unterschiedlich: Manche als Drohung gegen Abweichler. Andere als Verständnis für verschiedene Positionen in der Fraktion.“ Verständnis für verschiedene Positionen, ja sicher. Und wer seinem Gegenüber sagt „Ich weiß, wo deine Familie wohnt“, der will natürlich nur sein Verständnis für die Existenz verschiedener Wohnlagen zum Ausdruck bringen.
Was hat das mit Strafbarkeit zu tun? Das sagt uns §106 des Strafgesetzbuches. Dort heißt es in Absatz 1, Punkt 2 a): „Wer ein Mitglied eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel nötigt, seine Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Mit Gewalt hat Merz nicht genötigt, mit einer öffentlichen Drohung schon. Und wer seinen Satz nur als bescheidenen Drohungsversuch werten will, sei versichert, dass nach Absatz 2 auch der Versuch strafbar ist.
Und so bleiben von dieser historischen Sitzung die drei Phänomene Erbärmlichkeit, verfassungswidrige Anmaßung und Strafbarkeit.
Mehr nicht.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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