Von Christian Euler
Viele Medien nähren mit sensationslüsternen Überschriften die Panik. „Zahl der Corona-Fälle in Kitas und Schulen in Rheinland-Pfalz steigt stark an“, titelte etwa SWR aktuell, „Mehr Infektionen bei Kindern“, hieß es bei der Tagesschau, während das ZDF so für Verunsicherung sorgt: „Erstmals seit Pandemiebeginn – Inzidenz bei Kindern steigt über 100.“ Das Zweite, mit dem man angeblich besser sieht, erhebt zugleich den mahnenden Zeigefinger: „Doch die Bund-Länder-Beschlüsse zu Kitas und Schulen bleiben vage.“
Was angesichts solcher Meldungen verlorengeht: Um tatsächlich einen besseren Durchblick zu bekommen, bedarf es ausschließlich des gesunden Menschenverstands. So zeigt ein Blick zurück, dass es im vergangenen Jahr nur sporadische Tests bei den Jüngsten gab. Doch mittlerweile finden sie flächendeckend statt. Die einfache Arithmetik, die daraus folgt, dürfte auch Grundschülern kein Kopfzerbrechen bereiten: Mehr Tests = mehr Fälle. Kaum Wunder also, dass der Anstieg bei Kindern und Jugendlichen vor diesem Hintergrund „sehr rasant“ verläuft, wie RKI-Chef Lothar Wieler am 12. März warnte.
Christof Kuhbandner, Professor für Psychologie an der Universität Regensburg, hat für die „Welt“ analysiert, wie sich die Anzahl der Infektionen über die letzten Wochen tatsächlich verändert hat. Dazu genüge es, so der Wissenschaftler, die Positivrate zu betrachten, also die Zahl der positiven Testergebnisse im Verhältnis zur Gesamtzahl der Tests. Zur Veranschaulichung hilft ein einfaches Beispiel von zwei Schulen mit 1000 Schülern, in denen jeweils 100 Schüler, also zehn Prozent, tatsächlich positiv sind. Testet man an der einen Schule nach dem Zufallsprinzip 100 Schüler, müsste das Ergebnis demnach bei zehn von ihnen positiv sein. Werden an der anderen Schule 200 Schüler getestet, finden sich 20 Fälle. Die Inzidenz ist somit scheinbar höher, obwohl die Positivrate mit zehn Prozent an beiden Schulen gleich ist.
„Die Infektionszahlen sinken“
Blickt man nun auf die Entwicklung der Positivrate nach Altersgruppen und Kalenderwoche in Deutschland, wird klar: Während sie bei den Erwachsenen seit einigen Wochen steigt, ist sie bei Kindern bis 14 Jahren zwischen der 7. und 11. Kalenderwoche rückläufig. Kuhbandners Fazit: „In Wirklichkeit gibt es keinen Anstieg der Infektionen bei den Kindern, stattdessen sinken die Infektionszahlen.“ In Parenthese sei angemerkt: Dass ein positiver Test nicht zwangsläufig eine Infektion bedeutet bzw. diese ohnehin nicht evidenzbasiert nachweisen kann, ist nicht Teil dieser Betrachtung.
Geht es nach Mathematik-Professor Thomas Hotz, ist die Sache nicht so eindeutig. Zwar entspricht der starke Anstieg bei den Kindern auch seiner Ansicht nach „wahrscheinlich nicht der Realität.“ Der komplexen Wirklichkeit werde das aber nicht gerecht, moniert der Mathematiker gegenüber der „Welt“. Denn Kuhbandners Analyse gehe davon aus, dass sämtliche Tests ohne besonderen Anlass nach dem Zufallsprinzip gemacht werden. „Tatsächlich aber gibt es – auch wenn die Tests ausgeweitet werden – immer noch viele, die aus einem bestimmten Anlass gemacht werden“, so Holtz. So werde eine ganze Klasse getestet, wenn ein Kind oder ein Lehrer positiv sei, oder Kinder würden getestet, wenn in der Familie jemand erkrankt sei.
Eindeutig ist auch hier: Werden Tests wegen eines Verdachts durchgeführt, finden sich deutlich mehr positive Fälle, als wenn der Test ausschließlich auf dem Zufallsprinzip basiert und ohne Anlass stattfindet. „Steigt die Anzahl der anlasslosen Tests stärker an als die der anlassbezogenen, so kann sehr wohl die Positivenrate fallen, obwohl die Inzidenz steigt“, rechnet Hotz vor – und gibt zu bedenken: „Auf die Positivquote ist kein Verlass. Man kann aus ihr nicht auf die tatsächliche Zahl der Infektionen schließen.“
Wie aufschlussreich sind die Tests grundsätzlich?
Die Crux: Da keine Daten vorliegen, warum jeweils getestet wurde, lässt sich nicht wirklich sagen, worauf die veränderte Positivenrate beziehungsweise die Zunahme der Inzidenzen zurückzuführen ist.
Bleibt eine Plausibilitätsprüfung. Laut den am Dienstag veröffentlichten Daten des RKI verdoppelten sich die Inzidenzen in den Altersgruppen 15–59 von Kalenderwoche sieben bis elf etwa, während sie sich in der Altersgruppe 5–14 fast verdreifacht hatten. „Da Kinder mit Eltern in einem Haushalt leben, kann ich mir kaum vorstellen, dass sich deren Inzidenz so viel schneller erhöht als die ihrer Eltern“, meint Hotz – und fügt hinzu: „Es wäre sehr wichtig, wenn wir zu jedem Testergebnis auch seinen Anlass wüssten, um den Zahlen Sinn zu geben.“
Gänzlich unberücksichtigt bei beiden Gelehrten bleibt eine Frage jenseits aller Mathematik: Wie aussagekräftig sind die Tests grundsätzlich? Nach dem wegweisenden Urteil des Verwaltungsgerichts in Wien müsste man den Rechenschieber gar nicht mehr bemühen.
Bild: FamVeld/Shutterstock
Text: ce
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