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Die Stelle musste ich mir gleich mehrmals anhören, weil ich nicht glauben wollte, was der Präsident der obersten deutschen Gesundheitsbehörde heute auf der Bundespressekonferenz sagte. „Die Fallzahlen nehmen nicht etwa zu, weil mehr getestet wird, denn dann würden wir ja nicht erwarten, dass der Anteil der positiven PCR-Testergebnisse zunimmt, tatsächlich nimmt er aber zu, und er lag vergangene Woche bei über zwölf Prozent“, sagte RKI-Chef Lothar Wieler. Mein sofortiger Verdacht: Das ist eine Irreführung. Denn da ja nun massiv Schnelltests stattfinden, und diejenigen, bei denen diese positiv ausschlagen, zum PCR-Test geschickt werden, ist die Zunahme der Positiv-Rate bei diesen geradezu zwangsläufig. Und hat eben doch genau mit der Zunahme der Tests zu tun – was Wieler aber explizit bestreitet. Da man sich als Laie leicht irren kann, befragte ich den Pharmakologen und Toxikologen Prof. Dr. Stefan Hockertz, ob meine Schlussfolgerung zutrifft. Seine Antwort: „Vollkommen. Ich würde hier sogar von einem Taschenspielertrick Wielers sprechen. Denn natürlich haben wir es hier mit einer starken Verzerrung der Zahlen zu tun, wenn so eine Vorselektion stattfindet, also wenn gezielt Menschen zum PCR-Test geschickt werden mit positivem Vortest. Dass dann eine ganz andere Positiv-Quote herauskommt, als wenn ohne vorherige Selektion PCR-Tests stattfinden, liegt doch für jeden auf der Hand.“
Ein Epidemiologe, den ich befragte, um eine Zweitmeinung zu erhalten, bestätigte die Einschätzung von Hockertz. Er fügte hinzu: „Interessante Frage wäre ja, ob der Anteil der Erkrankten unter den Positiven zunimmt? Aber das kann ja niemand sagen …“ Bemerkenswert ist, dass dieser Widerspruch heute nicht aufgegriffen wurde auf der Bundespressekonferenz. Ich selbst war heute nicht anwesend – die Veranstaltung war kurzfristig auf Donnerstagmorgen gelegt worden, statt wie gewohnt auf Freitag. Ich werde aber um 14.30 Uhr dort sein, wenn Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die neue Kriminalstatistik vorstellt.
Massiv kritisierte Hockertz auch, dass Wieler offenbar absichtlich mit Begriffen manipulierte. „Die meisten Neuerkrankungen finden übrigens bei den 15- bis 49-Jährigen statt“, sagte der RKI-Chef heute. Dabei setzt er positive Testergebnisse mit Krankheit gleich, und das, obwohl Deutschland offenbar systematisch gegen die Empfehlung der WHO verstößt, Positiv-Getestete ohne Symptome noch einmal testen zu lassen. „Wieler verstößt damit gegen die Definitionen der Weltgesundheitsorganisation, denn denen zufolge bedeutet ein positives Ergebnis bei einem PCR-Test eben nicht automatisch eine Krankheit, und so zu tun, als sei das so, ist eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit“, so Hockertz.
Die Bundesregierung begründet ihren harten Kurs bei der Bekämpfung von Corona stets auch damit, dass eine Überlastung des Gesundheitswesens droht. Besonders im Augenmerk sind dabei die Intensivbetten. Es sei „eindeutig und nicht zu missinterpretieren“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) heute auf der Bundespressekonferenz: „Die Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 liegt wieder bei fast 5.000.“ Dieses Aufrunden von 4.680 mag legitim sein. Weiter sagte Spahn: „Die Intensivmediziner rechnen damit, dass wir Ende des Monats, also in zwei Wochen, sogar 6.000 Covid-19 Patienten in den Intensivstationen werden versorgen müssen. Das heißt, schon jetzt können wir absehen, dass ohne einen Stopp dieser Entwicklung unser Gesundheitssystem an den Rand seiner Kapazität gelangen wird.“ Deshalb sei die Situation in den Intensivstationen einer der wichtigsten Parameter: „Das Hauptziel in dieser Pandemie ist, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das ist die Priorität gewesen seit zwölf Monaten.“
Diese Aussagen sind in jeder Hinsicht bemerkenswert: Wenn ein Hauptziel war, die Überlastung zu vermeiden, warum wurden dann Krankenhäuser geschlossen, und warum sind dann heute zwanzig Prozent weniger Intensivbetten verfügbar als im Herbst – ein Abbau mitten in der Corona-Krise? „Es wurden allein durch Schließung von Krankenhäusern seit Beginn der Pandemie 3.000 Betten deutschlandweit abgebaut“, beklagt Hockertz: „Wenn ich bei einer Pandemie, wenn wir sie mal so nennen wollen, das Gesundheitswesen nicht ausbaue, ist das ein Verbrechen, wenn ich aber die Kapazitäten abbaue, dann ist es ein vorsätzliches Verbrechen, und damit hat die Regierung jede Berechtigung verspielt, jetzt unter Hinweis auf das Gesundheitswesen, das sie seit einem Jahr schwächt, massive Beeinträchtigungen der Grundrechte vorzunehmen.“
Seit vergangenem Herbst ist die Zahl der Intensivbetten in Deutschland um mehr als 20 Prozent gesunken. Spahn rechtfertigte dies vergangene Woche auf meine Frage hin mit mangelndem Personal. Aber was hat die Regierung getan, um beispielsweise Pflegepersonal, das wegen der sehr schlechten Bedingungen in dem Beruf abgewandert ist, wieder zurückzugewinnen? Die Antwort der Bundesregierung auf diese Frage von mir diese Woche empfand ich als ausweichend. Mit Stand vom 15. April sind laut DIVI bundesweit noch 2.864 Intensivbetten frei. Dazu kommt eine 7-Tage-Notfallreserve von 10.304 Betten – das sind Plätze in den Intensivstationen, die binnen sieben Tagen bereitgestellt werden können.
Warum es heute 20.000 Intensivbetten weniger gebe als früher, fragte ein Kollege und verwies auf 56.000 Betten in Hochphasen: „Die gibt es nicht und gab es auch nicht“, antwortete Charité-Intensivmediziner Weber-Carstens, der mit auf dem Podium saß. Doch so oder so würden auch Notfallbetten nur dann etwas bringen, wenn man die entsprechende Betreuung leisten könne. „Wir hatten zum Jahreswechsel Medizinstudenten und Assistenzärzte, die geholfen haben, doch die Ressourcen sind endlich.“ Eines sollte man vermeiden: „Die Intensivkapazitäten bis ins Unermessliche auszureizen.“ Spahn fügte hinzu, dass man wohl noch einige tausend Patienten betreuen könne, wenn man das System ausreizen und unter schweren Bedingungen einige Zeit betreiben würde. „Aber was ist denn die Logik dahinter, wenn man das austestet und dafür sorgt, dass danach gar keiner mehr in Krankenhäusern arbeiten will? Das verstehe ich nicht.“
Spahns Tenor, man solle nicht die Intensivkapazitäten bis ins Unermessliche ausreizen, hätte ich gerne mit einer Frage gekontert: Macht es Sinn, die Geduld der Gesellschaft und ihre Fähigkeit, Kollateralschäden zu ertragen, bis ins Unermessliche auszureizen? Kann man 83 Millionen Menschen eines normalen Lebens berauben, weil man ein „Austesten von Intensivkapazitäten“ vermeiden will? Müsste man nach dieser Logik dann nicht auch vieles andere überdenken? Etwa den legalen Verkauf von Alkohol und Tabak? Fragen über Fragen…
Wieler sagte auf der Bundespressekonferenz weiter: „Die Todeszahlen stagnieren, gehen aber nicht zurück.“ Spahn führte aus: „Selbst in den USA, Kanada und in Chile steigen die Fallzahlen“. Er verwies aber nicht darauf, dass es etwa in den USA in vielen Bundesstaaten kaum Corona-Maßnahmen gibt – und die Fallzahlen etwa in Texas nach der Aufhebung der Corona-Maßnahmen gefallen sind und sich seitdem kontinuierlich auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau bewegen:
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Bild: Boris Reitschuster
Text: br