Es sind Zahlen, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so dramatisch wirken. Die aber für eine freiheitliche Demokratie absolut niederschmetternd sind. „Im Juni 2021 sagten gerade noch 45 Prozent, man könne seine Meinung frei sagen, praktisch gleich viele, 44 Prozent, widersprachen“, schreibt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach heute in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter Berufung auf eine Umfrage für die Zeitung. Leider ist der Beitrag nur hinter einer Zahlschranke zu lesen. Besonders interessant: Anhänger der Grünen sind zu 62 Prozent der Meinung, dass man seine Meinung frei äußern könne. Was Sinn macht – denn wer dieser Partei nahesteht, wird tendenziell wohl eher Meinungen haben, die zeitgeistkonform sind, als etwa ein Anhänger der AfD.
Bei den Anhängern der unter Angela Merkel deutlich vergrünten Union sind es immerhin noch 53 Prozent, die der Ansicht sind, man könne sich frei äußern. Unter den Anhängern sämtlicher restlicher Parteien, von der „Linken“ über die SPD und die FDP bis hin zur AfD, ist es nur noch eine Minderheit, die sich frei fühlt, ihre Meinung zu äußern. Bei den AfD-Sympathisanten haben nur 12 Prozent den Eindruck, frei sprechen zu können; davor kommen FDP-Anhänger mit 35 Prozent, Anhänger der Linken (40 Prozent) und der SPD (43 Prozent).
Die konkrete Frage des alteingesessenen Instituts war: „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“ In früheren Umfragen antwortete stets eine klare Mehrheit, sie glaube, man könne seine Meinung frei äußern. „Von den sechziger Jahren bis ins vergangene Jahrzehnt hinein vertraten regelmäßig mehr als zwei Drittel der Befragten diese Ansicht, seitdem aber haben sich die Antworten dramatisch verändert“, schreibt Petersen.
„Man kann annehmen, dass die allermeisten Menschen, die darüber klagen, man könne seine Meinung nicht frei äußern, durchaus wissen, dass es kein Gesetz gibt, das ihnen die freie Meinungsäußerung verbietet“, so der Meinungsforscher weiter: „Darum sind in diesem Zusammenhang auch Verweise auf die im Grundgesetz festgeschriebene Meinungsfreiheit sinnlos. Stattdessen bezieht sich die Klage auf die gesellschaftlichen Sanktionen, die drohen, wenn man gegen die Regeln der ‘Political Correctness‘ verstößt.“
„Wie sehr sich in dieser Hinsicht das Klima in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewandelt hat“, zeigten die Antworten auf eine Frage, bei der die Interviewer eine Liste mit gesellschaftspolitischen Themen vorlegten, so Petersen in dem Artikel aus der FAZ. Die Befragten sollten demnach sagen, welche von diesen sie als „heikle Themen“ sehen, bei denen man sich leicht „den Mund verbrenne“. Im Vergleich zum Jahr 1996 – damals wurde diese Frage zum ersten Mal gestellt – nahm die Häufigkeit, mit der die Befragten verschiedene Themen als „heikel“ ansahen, dramatisch zu. 1996 fanden noch 15 Prozent, es sei heikel, über Muslime und den Islam zu sprechen. Diese Zahl hat sich heute fast vervierfacht, auf 59 Prozent. Heikel fanden vor 25 Jahren nur 19 Prozent Vaterlandsliebe und Patriotismus. Jetzt sind es 38 Prozent. Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen sahen 1996 drei Prozent als sensibel an – jetzt sind es 19 Prozent.
‘Gendergerechte Sprache unbeliebt‘
Gendergerechte Sprache in persönlichen Gesprächen betrachten nur 19 Prozent als wichtig, damit sich niemand diskriminiert und beleidigt fühlt. 71 Prozent finden das „Gendern“ in solchen Fällen übertrieben; selbst bei den Frauen sieht das noch eine knappe Zweidrittelmehrheit so: 65 Prozent. Wenig Sinn fürs „Gendern“ haben der Umfrage zufolge nicht nur die Älteren: Auch Befragte unter 30 Jahren finden zu 65 Prozent einen solchen Sprachgebrauch übertrieben. Selbst bei Anhängern der Grünen sind nur 25 Prozent kompromisslos für „gendergerechte Sprache“ – 65 Prozent sind auch in diesem politischen Lager dagegen.
Auch die Tabuisierung von Begriffen wie „Zigeunerschnitzel“, „Negerkuss“ oder „Mohrenkopf“ halten 68 Prozent (beim „Mohrenkopf“) bis 77 Prozent für falsch (beim „Zigeunerschnitzel“). An der Mehrzahl der Menschen vorbei gehen auch Debatten wie die um die „Cancel Culture“ – dem „Bestreben, Personen, die bestimmte, als nicht angemessen empfundene Äußerungen machen, keinen Raum zur Meinungsäußerung zu geben und sie nach Möglichkeit aus ihren Positionen zu entfernen, damit ihre Meinungen aus dem öffentlichen Raum verschwinden“, so der Meinungsforscher in der FAZ. Er führt aus, dass „nur 24 Prozent der Befragten schon einmal von dem Begriff ‘Cancel Culture‘ gehört hatten. Auf die Nachfrage, was der Begriff bedeute, konnten gerade elf Prozent Angaben machen, die zumindest nicht offensichtlich falsch waren.“
Petersen schreibt in dem Beitrag weiter: „Auch in vielen konkreten Fällen zeigt sich die Bevölkerung weniger unduldsam gegenüber Personen, die gegen Normen verstoßen, als man angesichts des Tonfalls in der öffentlichen Diskussion annehmen könnte.“ So wurden den Befragten Fälle aus den vergangenen Monaten präsentiert, in denen Personen wegen umstrittener Äußerungen ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten. Der Umfrage zufolge hielten es noch 67 Prozent für richtig, dass der DFB-Präsident nach einem Vergleich seines Vizes mit Nazi-Richter Roland Freisler zurücktreten musste. Dass ein Ex-Nationalspieler mehrere Jobs verliert, weil er einen schwarzen Fernsehexperten als „Quotenschwarzen“ bezeichnete, finden 49 Prozent richtig, 50 Prozent dagegen übertrieben. 87 Prozent „können es nicht nachvollziehen, wenn eine weiße Übersetzerin ihren Übersetzungsauftrag für das Gedicht einer schwarzen Autorin verliert, weil sie sich als Weiße nicht ausreichend in die Gedankenwelt einer Schwarzen hineinversetzen könne“, heißt es in dem FAZ-Artikel: „Und 95 Prozent verstanden es nicht, warum eine Politikerin sich offiziell entschuldigen muss, weil sie gesagt hat, dass sie als Kind Indianerhäuptling habe werden wollen.“
Dass die Wahrnehmung der Menschen im Privaten und der Eindruck, der in der Öffentlichkeit entsteht, so weit auseinander gehen, ist nach Ansicht Petersens „nur erklärbar, wenn man die Rolle der Massenmedien in diesem Prozess mitberücksichtigt“. Ohne sie könnte ein solcher öffentlicher Druck gegen die Einstellungen der Mehrheit nicht aufgebaut werden, so der Meinungsforscher: „Es spricht einiges dafür, dass sich die intellektuellen Diskussionen um solche Themen – einschließlich der Diskussionen in maßgeblichen Massenmedien – teilweise von der Lebenswirklichkeit der Bürger entkoppelt haben.“
Riesige Entfremdung
Die Aussagen des Fachmanns entsprechen genau dem, was mein subjektiver und nicht wissenschaftlich fundierter Eindruck aus zahllosen Gesprächen und Schriftwechseln mit vielen Menschen ist. Die Entfremdung zwischen großen Teilen der Bevölkerung und dem, was der Journalist Alexander Fritsch den polit-medialen Komplex nennt, ist sehr groß. Parallel dazu wird jeder Hinweis auf diese Entfremdung von denen, die für sie verantwortlich sind, stigmatisiert und diffamiert. Etwa durch eine Instrumentalisierung des „Populismus“-Begriffes. Seit vielen Jahren spreche ich immer wieder Kollegen, aber auch Chefredakteure und Verleger sowie Politiker auf diese in meinen Augen riesige Entfremdung an. In den meisten Fällen stoße ich dabei auf Unverständnis. Und auf Ablehnung, die dann nicht selten auch ins Persönliche übergeht.
Ich bin überzeugt: Nicht das Benennen dieser Missstände ist das große Problem für unsere Demokratie und unsere Freiheit. Sondern deren Verschweigen und Tabuisieren. Das kann mittelfristig zu schweren Zerwürfnissen führen. Oder genauer gesagt zu deren eruptionsartigem Ausbruch – denn die Spaltung ist bereits vorhanden. Und so tief, dass ein glimpflicher Ausgang mit jedem Tag weniger wahrscheinlich wird.
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Bild: Lightspring/Shutterstock
Text: br