Von Gregor Amelung
1981 war Peter Scholl-Latour mit den Mudschaheddin der Hezb-e-Islami (Partei des Islam) im Gebiet der Aufständischen unterwegs gewesen. Die »Gotteskrieger« überraschten den damals bereits weitgereisten Journalisten damit, dass sie neben dem üblichen Kampfruf »Allahu akbar« immer wieder »Markbar Amrika« (Tod den Amerikanern) anstimmten. »Als ich sie auf den Widerspruch hinwies, mit US-Hilfe gegen die Sowjets zu kämpfen und gleichzeitig die ›Yankees‹ zu verwünschen, antworteten sie mit dem Gesang ›la gharbi, la scharqi -Islami!‹ (Nicht westlich, nicht östlich sind wir, sondern islamisch!).«
Berichterstattung im Sinne des »Kampf gegen Rechts«
Kurz gefasst könnte man diese Sentenz auch als afghanische Unabhängigkeits-Erklärung begreifen, die sich sowohl gegen die westliche Lebensform des Kapitalismus als auch gegen die östliche des Kommunismus wendet und im Islam einen dritten Weg sieht.
Eine derartige Analyse ist allerdings hierzulande nicht erwünscht. Vor allem nicht in der aktuellen Berichterstattung, die sich nach der Flüchtlingskrise 2015 und dem Aufstieg der AfD eben auch dem »Kampf gegen Rechts« verschrieben hat. Entsprechend bestrebt ist man in vielen deutschen Medien derzeit, die Taliban als Sonderlinge darzustellen, die mit dem Islam, der »zu Deutschland gehört«, nichts zu tun haben, und deren politisches Konzept offenbar lediglich darin besteht, Frauen zu unterdrücken.
»Die »Brücke der Freundschaft«
Zurückgezogen hatte sich die geschlagene Sowjetarmee am 15. Februar 1989. Für die Soldaten ging es über die »Brücke der Freundschaft«, die den Grenzfluss Amudarja überspannt, nach Hause ans andere Ufer. Neun Monate später fiel die Berliner Mauer, und heute steht man am anderen Ufer des Amudarjas nicht mehr in der Sowjetunion, sondern in Usbekistan. In der autoritär regierten Republik gilt heute kurioserweise Timur Lenk (Tamerlan) als Volksheld. Ein in Deutschland nahezu unbekannter Heerführer, der das Mongolenreich wiederherstellte und die Bevölkerung in eroberten Städten und Region zu Hunderttausenden ermorden ließ, um ihre Schädel zu Pyramiden aufzutürmen.
Zwölf Kilometer entfernt vom usbekischen Ufer des Amudarjas liegt die in Deutschland besser bekannte Stadt Termiz, deren Flughafen für den Einsatz der Bundeswehr im Norden Afghanistans logistisches Drehkreuz war, genauso wie für die Evakuierungsflüge aus Kabul.
»Demokratische Republik Afghanistan«
Zurückgelassen hatten die Sowjets – genauso wie die ehemaligen ISAF-Staaten – einen afghanischen Staat in ihrem Sinne. 1989 war es die »Demokratische Republik Afghanistan« (DRA) mit dem Kommunisten Dr. Mohammed Nadschibullah an der Spitze.
Hervorgegangen war die Republik aus der sogenannten Saur-Revolution 1978, zu deren Stabilisierung die Sowjets ein Jahr später einmarschiert waren. Trotz aller Bluttaten, die im Umfeld dieser Ereignisse geschehen sind, hatten die afghanischen Kommunisten auch ein ambitioniertes Reformprogramm aufgelegt, das speziell für die Emanzipation der Frau möglicherweise mehr erreicht hat als die westlichen ISAF-Truppen. Nadschibullahs Kommunisten sagten nicht nur dem Analphabetismus den Kampf an, sie wagten sich auch an eine Agrarreform zur Umgestaltung der bisher feudalen Eigentumsordnung heran. Zwangsehen wurden verboten, genauso wie die Pflicht für Frauen, eine Burka zu tragen, und die Pflicht für Männer, einen Bart. Darüber hinaus wurde im Sinne des offiziell im Sozialismus geltenden Atheismus die Religionsfreiheit durchgesetzt.
»Präsident Nadschibullah«
Verteidigt wurde die DRA, die genauso wie Südvietnam oder das Afghanistan des am 15. August 2021 geflüchteten Präsidenten Ghani nur einen Teil ihres Territoriums kontrollierte, nach dem Abzug der Sowjets von einer 150.000 Mann starken Armee, zu der noch rund 100.000 Mann aus dem paramilitärischen Polizei- und Sicherheitsapparat hinzukamen. Über eine einsatzfähige Luftwaffe verfügt die DRA allerdings nicht, denn bei dem hochkomplexen Material machte sich das Auseinanderbrechen der Sowjetunion Ende 1991 und mit ihm der Abzug von Technikern und Personal besonders rasch bemerkbar.
Trotzdem leistete diese weltlich-sozialistische Armee weiter hartnäckig Widerstand gegen die geistlich-islamischen Mudschaheddin. Erst am 14. April 1992 musste Präsident Nadschibullah sein Amt aufgeben. Als Kabul kurz darauf erobert wurde, versuchte der 45-jährige Ex-Präsident und studierte Gynäkologe, über den Internationalen Flughafen ins Ausland zu flüchten, was ihm von Einheiten des usbekischen Generals Raschid Dostums verweigert wurde.
An der Ausreise gehindert, suchte Nadschibullah Zuflucht im Kabuler UN-Hauptquartier. Dort blieb er, während die UN versuchte, eine sichere Ausreise nach Indien zu arrangieren. Seine »Wartezeit« darauf vertrieb sich der gebürtige Paschtune damit, das Buch des britischen Journalisten Peter Hopkirks »The Great Game: The Struggle for Empire in Central Asia / Das große Spiel: Kampf um ein zentralasiatisches Imperium«, ins Paschtunische zu übersetzen. Denn hier könnten die Paschtunen bzw. die Afghanen »erkennen, wie sich unsere Geschichte wiederholt… Nur wenn wir unsere Geschichte verstehen, können wir Schritte unternehmen, um den Kreislauf zu durchbrechen«, so der ehemalige Präsident.
»Kastriert« an einer Ampel aufgehängt
Als die Taliban im September 1996 Kabul eroberten, entführten sie den früheren Präsidenten von dem sicheren UN-Gelände, folterten ihn zu Tode und schleiften seinen kastrierten Leichnam hinter einem Lastwagen durch die Straßen der Hauptstadt.
Hierin sollte man allerdings als Europäer nicht reflexartig typisch orientalische Grausamkeit erkennen, denn auch der Leichnam von Benito Mussolini wurde übel geschändet. Man spuckte und urinierte auf ihn. Und das nicht irgendwo im Orient, sondern mitten in der Mailänder City, wo man die Leiche des früheren »Duce« am Dach einer Tankstelle aufgehängt hatte. Ganz Ähnliches geschah auch mit den tödlichen Überresten von Mohammed. Sie wurden von den Taliban an einer Ampelanlage vor dem Präsidentenpalast aufgehängt, um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass nunmehr eine neue Ära in Afghanistan angebrochen sei.
»Späte Verehrung des Ex-Präsidenten«
Nach dem Ende der Taliban-Herrschaft infolge des 11. Septembers 2001 kam es besonders in den Städten zu einer, wenn auch begrenzten, Wiederentdeckung und Verehrung des ermordeten Präsidenten. In Teehäusern oder auf Plakatwänden fanden sich Bildnisse und Portraits des Mannes, der für urbane Afghanen eben auch für Modernisierung und Elektrifizierung des Landes steht. Patriotisch Gestimmten gilt Nadschibullah überdies als letzter starker Führer, der über eine wehrhafte Armee gebot und das Land auch gegen den Einfluss des östlichen Nachbarn Pakistan abgrenzen konnte.
Die Tatsache, dass die afghanische Armee unter Nadschibullah vom Abzugstag des letzten sowjetischen Soldaten am 15. Februar 1989 bis zum 14. April 1992 Widerstand geleistet hatte – also fast 3 Jahre und 2 Monate –, steht im krassen Gegensatz zu den 45 Tagen, die die von der NATO aufgebaute Armee nun durchhalten wollte oder konnte.
Dahinter steckt sehr wahrscheinlich auch die bittere Erkenntnis für westliche Politiker und Medien, dass der vom Westen alimentierte und aufgebaute Staat nie in der afghanischen Bevölkerung verankert gewesen ist. Auch wenn Bundesaußenminister Heiko Maas noch in der Woche vor dem Abzug der Bundeswehr selbstbewusst getwittert hatte: »Die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, dass es kein ›Zurück ins Jahr 2001‹ geben wird. Dagegen steht eine selbstbewusste afghanische Zivilgesellschaft.« 54 Tage später war Kabul gefallen.
Fehlende gesellschaftliche Verankerung
Der vom Westen alimentierte und aufgebaute Staat mitsamt seiner Armee konnte eben gerade nicht auf die sogenannte »Zivilgesellschaft« zurückgreifen, auch wenn gerade ARD und ZDF mit unzähligen Interviews und Talkrunden genau das Gegenteil – direkt oder indirekt – immer wieder aufs Neue erklären. Anders als in Südvietnam, dessen städtische Bevölkerung dem merkantilen »Way of Life« des Westens traditionell immer mehr abgewinnen konnte als dem asketischen Volkskommunismus des Nordens, stand das vom Westen geschaffene Afghanistan nicht auf einem gesellschaftlichen Fundament.
Es waren – bei allem Respekt vor den einzelnen Reformern – eher Partikularinteressen wie beispielsweise die von den Medien geliebten Frauenrechtlerinnen, die im Westen den Eindruckt nährten, das afghanische Experiment würde gedeihen. Dabei fehlte ihm von Anfang an eine Struktur und ein zentraler Sammelort. Den hatten Nadschibullahs Kommunisten in der 1965 gegründeten »Demokratischen Volkspartei Afghanistans«. Sie und ihre Mitglieder waren vor allem in der urbanen Gesellschaft vernetzt, aktiv und organisiert, sowie mit einer klaren, kraftvollen Ideologie ausgestattet, die keine Scheu davor hatte, sich auch mit der Religion selbst anzulegen. Weshalb die Armee der »Demokratischen Republik Afghanistan« trotz rasch wegbrechender sowjetischer Unterstützung mehr als 3 Jahre Widerstand leisten konnte.
»Da übernehme auch ich Verantwortung«
Um so verwunderlicher war es denn auch, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel am Tag, als die Taliban im Kabuler Präsidentenpalast aufgetaucht waren, erklärte: »Wir haben alle – und da übernehme ich auch die Verantwortung – die Entwicklung falsch eingeschätzt.« Die afghanische Armee habe »keinen Widerstand geleistet – aus welchen Gründen auch immer«.
Nun, neben der fehlenden gesellschaftlich-ideologischen Verankerung litt die Armee beispielsweise unter Korruption und Vetternwirtschaft. So hatte die afghanische Nationalarmee (ANA) fast 1.000 Offiziere im Generalsrang und damit mehr als die US-Armee. Lebensmittellieferungen, Sold, Treibstoff, sogar Fahrzeuge, Waffen und Munition wurden in der ANA gestohlen oder verschoben, so dass sie auf dem Schwarzmarkt wieder auftauchten. Ein weiterer Grund waren die sogenannten »Geistersoldaten«, die nur auf dem Papier existierten, um ihren Sold abzugreifen. Und die, die nicht nur auf dem Papier existierten, litten unter Analphabetismus (90 Prozent), einer hohen Drogenkonsumrate (mindestens 50 Prozent) und dem Hang zu desertieren. Als sich das Problem der »Geistersoldaten« zum »Geister-Bataillon« anwuchs, versuchte man, dem Herr zu werden, indem man den Sold zeitweise aussetzte und die Soldaten zur Anwesenheitspflicht ohne Möglichkeit, ihre Familien zu sehen, verdonnerte. Darüber hinaus berichtete der US-Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR Special Inspector General für Afghanistan Reconstruction) über 5.753 Fälle von »groben Menschenrechtsverletzungen durch afghanische Streitkräfte«. Darunter fiel auch das »routinemäßige Versklavung und Vergewaltigung minderjähriger Jungen durch afghanische Kommandeure«, so die angesehene US-Journalistin Annie Jacobsen 2019.
Und all das hätte man in den Hauptstädten des Westens wissen können. Wollte man aber nicht. Lieber sprach man wie US-Präsident Biden von der riesigen Armee, die man aufgebaut hatte, oder von der »selbstbewusste[n] afghanische[n] Zivilgesellschaft« wie Außenminister Maas. Das war viel angenehmer, als sich den Tatsachen zu stellen und danach den Wählern zu erklären, dass man Milliarden Steuergelder verbraucht und Tausende von gefallenen und traumatisierten Soldaten zu beklagen hat, aber mit alldem keinen stabilen Staat am Hindukusch geschaffen hatte.
Den ersten Teil »Kabul ist nicht Saigon, Herr Schäuble!« finden Sie hier.
[themoneytizer id=“57085-3″]
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Karl Allen Lugmayer/Shutterstock
Text: Gast
[themoneytizer id=“57085-2″]
Mehr von Gregor Amelung auf reitschuster.de
[themoneytizer id=“57085-1″]