Von Kai Rebmann
Es gibt Wahlen, die gerne als demokratisch und frei bezeichnet werden, in Wahrheit aber alles andere als das sind. Nicht zuletzt die Regierungsvertreter der Vorzeigedemokratie Deutschland sind nicht selten diejenigen, die am schnellsten und lautesten schreien, wenn es entsprechende Missstände in anderen Regionen dieser Welt anzuprangern gilt. Bei sich selbst schauen die in den Bundestag gewählten Volksvertreter aber lieber nicht so genau hin, wie das Beispiel der aktuellen Diskussionen um die Chaos-Wahl in Berlin am 26. September 2021 zeigt. Obwohl es bei diesem Urnengang ganz offensichtlich alles andere als mit rechten Dingen zugegangen ist, wehren sich insbesondere die Ampelparteien mit Händen und Füßen gegen umfassende Neuwahlen in der Bundeshauptstadt. Der Bundesverfassungsrichter Peter Müller sprach in der FAZ sogar davon, dass man sich eine Situation wie in Berlin vor einigen Jahrzehnten in einem diktatorischen Entwicklungsland hätte vorstellen können, „aber nicht mitten in Europa, mitten in Deutschland.“
Zur Erinnerung: Vor etwas über einem Jahr fanden in Berlin neben der Bundestagswahl auch die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksparlamenten statt. Damit war man in der Hauptstadt aber leider überfordert. Stimmzettel waren entweder gar nicht erst in ausreichender Menge vorhanden oder wurden an nicht Wahlberechtigte ausgegeben, Wahllokale wurden vorübergehend geschlossen und viel zu wenige Wahlurnen führten zu langen Schlangen und stundenlangen Wartezeiten. Dadurch wurden die letzten Stimmen abgegeben, als die Hochrechnungen längst bekannt und teilweise sogar schon vorläufige Ergebnisse verkündet worden waren. All das hat wenig bis nichts mit ordnungsgemäßen Wahlen zu tun, die demokratischen Standards genügen würden. Noch viel schlimmer: Die Ampelkoalition scheint das nicht nur nicht zu bekümmern, sie will einer möglichen Neuwahl allenfalls im Miniatur-Format zustimmen.
Abgeordnete sollen über eigenes Schicksal entscheiden dürfen
In Bezug auf die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksparlamenten hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ein erstes Machtwort gesprochen. Die Richter halten eine vollständige Neuwahl für unausweichlich. Warum das dann nicht auch für die Bundestagswahl gelten soll, die in denselben Wahllokalen und unter denselben beklagenswerten Umständen durchgeführt wurde, bleibt schleierhaft. In diesem Fall liegt die Entscheidung zunächst beim Wahlprüfungsausschuss, der eine Empfehlung aussprechen wird, über die der Bundestag dann formal abstimmen muss. Erst danach steht möglichen Klägern der Weg vor das Bundesverfassungsgericht offen. Und wer sich auf die Stempelmaschine in Karlsruhe verlässt, der ist meist verlassen, wie die jüngsten Entscheidungen des hohen Hauses unter dem Vorsitz des Merkel-Zöglings Stephan Harbarth gezeigt haben.
Mindestens ebenso abenteuerlich wie die Zustände in den Berliner Wahllokalen sind die Versuche der Ampelkoalition, den Umfang der Neuwahlen zum Bundestag in möglichst überschaubaren Grenzen zu halten. Ursprünglich war vorgesehen, die Wähler in rund 400 der insgesamt 2.256 Wahlbezirke erneut zur Urne zu bitten. Diese Größenordnung hätte sich ergeben, wenn dabei alle Wahllokale berücksichtigt worden wären, die nach 18:30 Uhr noch geöffnet waren. Dagegen hat insbesondere die FDP interveniert, so dass jetzt nur noch solche Wahllokale durchs Raster fallen, in denen die Stimmabgabe auch nach 18:45 Uhr noch möglich war. Wäre es nur nach den Liberalen gegangen, so wäre die Grenze sogar bei 19 Uhr gezogen worden, wie die FAZ erfahren haben will. Zudem sollen nur die Zweitstimmen neu gewählt werden, an den Erststimmen, sprich den Direktmandaten, soll nicht gerüttelt werden.
Was auf den ersten Blick wie eine Diskussion um des Kaisers Bart erscheinen mag, könnte zu erdrutschartigen Verschiebungen der Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag führen – und vor allem zum Ausscheiden von bis zu 90 Mandatsträgern. Zu den rund 100 Wahlbezirken, in denen es nun doch nicht zu Neuwahlen kommen soll, gehört unter anderem der Wahlkreis Lichtenberg, wo das Direktmandat der Linken zur Disposition stehen könnte. Würden die Linken dieses Mandat verlieren und gleichzeitig unter der 5-Prozent-Hürde verharren, so müssten 38 Parlamentarier ihre gut alimentierten Stühle räumen und die Nachfolgepartei der SED würde außerdem ihren Fraktionsstatus verlieren. Im Nachgang würden auch mehrere durch Ausgleichs- und/oder Überhangmandate in den Bundestag gerutschte Abgeordnete über Nacht auf der Straße stehen.
Skandal-Wahl von Berlin landet wohl vor dem Bundesverfassungsgericht
Die Mehrheitsverhältnisse im Wahlprüfungsausschuss wie auch im Parlament sind zugunsten der Ampelkoalition. Abgeordnete aus allen Fraktionen haben gute Gründe, gegen eine umfassende Neuauflage des Urnengangs in der Hauptstadt zu stimmen. Den Informationen des „Business Insider“ zufolge müssen vor allem Ottilie Klein (CDU), Ruppert Stüwe (SPD), Götz Frömming (AfD), Lars Lindemann (FDP), Pascal Meiser (Linke) und Nina Stahr (Grüne) um ihre Zukunft als Berufspolitiker zittern. Bei einer geringen Wahlbeteiligung wackeln zudem die Stühle von Andreas Audretsch (Grüne) und Jürgen Hardt (CDU).
Das Tauziehen um die Bedingungen der Berliner Neuwahl für den Bundestag wird wohl fast zwangsläufig vor dem Bundesverfassungsgericht enden. Alles spricht dafür, dass das „Neuwählchen“ in Berlin sowohl durch den Wahlprüfungsausschuss als auch den Bundestag gewunken wird und dann Staatsrechtler den Weg nach Karlsruhe antreten werden. Als wahrscheinlichster Termin für die Neuwahl zum Bundestag gilt das Frühjahr 2023. Eine erste Gerichtsentscheidung rund um diesen in der Bundesrepublik Deutschland bisher beispiellosen Wahl-Skandal wird für den 16. November erwartet. Dann wird das Landesverfassungsgericht seine Entscheidung zur Neuwahl für das Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente in der Hauptstadt verkünden. Dieser Urnengang soll nach den bisherigen Planungen am 12. Februar 2023 wiederholt werden.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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