Blockierten Berliner Essensretter-Aktivisten einen ärztlichen Noteinsatz? Harte Maßnahmen gegen Demonstrationen treffen alle politischen Lager

Von Alexander Wallasch

Demonstrieren auf der Straße ist Protest unter Einsatz des eigenen Körpers. Wem es nur darum ginge, eine oppositionelle Meinung kundzutun, der könnte diese auch Online veröffentlichen. Demgegenüber ist der öffentliche Raum Aktionsraum physischer außerparlamentarischer Bewegungen. Hier ist dem jeweiligen Aufbegehren maximale Aufmerksamkeit gewiss.

Demonstrationen werden polizeilich begleitet, sie führen, je nach Teilnehmerzahl, zu Behinderungen des Verkehrs und der Infrastruktur. Unter dem Eindruck der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen haben sich in den letzten beiden Jahren viele Bürger insbesondere in den Innenstädten an solche Behinderungen gewöhnen müssen.

Andere Themen sind deshalb aber nicht von der Tagesordnung verschwunden. So beschäftigt Berlin aktuell eine Klima-Bewegung, die sich der Rettung von Lebensmitteln verschrieben hat und dafür Straßen blockiert und Autos am Weiterfahren hindert. Zuletzt soll in diesem Kontext in Berlin eine Ärztin daran gehindert worden sein, zu einer Notoperation zu kommen.

Die Motivation der Demonstranten kann man einem Tweet der Nichtregierungsorganisation (NGO) entnehmen:

Eine bestimmte Anzahl der Aktivisten der nicht angemeldeten Demonstrationen wurde festgenommen, neuerliche Straßensperren richten sich gegen diese Festnahmen. Die Demonstranten fordern von der Bundesregierung unter anderem ein „sofortiges Essen-retten-Gesetz“. Nicht nur in Berlin, auch in Hamburg, Stuttgart, München und Frankfurt sollen nach Selbstbekunden der NGO von ihren Sympathisanten Straßen gesperrt worden sein.

Der Tagesspiegel berichtete davon, dass in Berlin ein so blockierter Autofahrer eine der Demonstrantinnen geschlagen hätte. Der trug eine gut sichtbare Jacke eines Unternehmens, dass sich anschließend öffentlich zu Wort meldete und das Verhalten ihre Mitarbeiters verurteilte. Der allerdings wollte nur eines, nämlich rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz eben in diesem Unternehmen erscheinen und dort keinen Ärger für sich riskieren.

Die Polizei nahm zuletzt 13 Demonstranten fest, es wurden Anzeigen geschrieben unter anderem „wegen Nötigung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“.

reitschuster.de will genauer wissen, was es auf der Berliner Stadtautobahn mit der Ärztin auf sich hatte, die von einem OP-Einsatz abgehalten worden sein soll. Wir sprachen dazu mit einem der Anwesenden, der bestätigte, dass die Ärztin nicht durchgelassen wurde. Teils hielten die Demonstranten die Angaben der Frau für eine Ausrede, so der Zeuge, teils wollte man noch warten, „bis Blaulicht kommt.“

Innerhalb der Gruppe, so heißt es weiter, wäre man uneins gewesen: Der Aktivist, der die Aktion für die NGO filmte, habe für „durchlassen“ plädiert, während auf der Straße sitzende Demonstranten dagegen votierten. Auch ein Rettungswagenteam, das auf Leerfahrt auf dem Weg in die Zentrale war, um sich neu auszurüsten, soll behindert worden sein. Dank des Einsatzes weiterer Autofahrer konnte die Ärztin ihre Fahrt nach ein paar Minuten an den Demonstranten vorbei fortsetzen.

Die Bewegung selbst ist unzufrieden mit dem Verlauf der Aktion, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen der Initiative wäre ausgeblieben, dafür würde jetzt medial „vor allem über Sympathie oder Antipathie der direkt betroffen Autofahrer:innen diskutiert“. Eine Teilnehmerin der Blockade rechtfertigt sich dazu:

“Ich möchte diese Störung nicht! Und ich möchte nicht hier sein und mich dem Unmut der Autofahrer:innen aussetzen. Wenn wir jedoch diesen todbringenden Kurs weiterverfolgen, werden die Folgen jeden von uns auf schreckliche Art und Weise treffen. Deshalb sollte sich jede und jeder überlegen, was in diesem Moment in der Geschichte zu tun ist. Es braucht noch viel mehr Bürger:innen im friedlichen zivilen Widerstand!”

Im Kern geht es hier demnach darum, dass das Konsumentenverhalten nicht mehr ausreicht, Missstände in der Lebensmittelherstellung und -versorgung der Bevölkerung zu beheben, die Demonstranten fordern die Regierenden mit ihren illegalen Aktionen auf, endlich regulierend/gesetzgebend einzugreifen.

Das Mittel der Sitzblockaden ist übrigens alles andere als neu. Es gibt dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das nicht zwingend von Nötigung ausgeht, unter ganz bestimmten Umständen könnten solche Blockaden auch nachträglich als Versammlungen gewertet werden.

Interessant sind in dem Zusammenhang Gerichtsurteile, wonach Sitzblockaden strafrechtlich als „Versammlungssprengung“ gewertet wurden, wenn durch die Blockade Demonstranten an der Teilnahme an einer anderen angemeldeten Versammlung gehindert wurden.

Und um auf das aktuelle Protestgeschehen in Deutschland hinzuweisen: Spaziergänger sitzen nicht auf der Straße, sie gehen auf ihr spazieren. Dennoch kommt es im Zusammenhang mit Spaziergängen immer wieder zu Sitzblockaden, die sich gegen die Spaziergänger-Bewegung richten.

Interessant wird es, wenn Corona-Maßnahmenkritiker ebenfalls zum Mittel der Sitzblockade greifen, wie schon in der frühen Phase der Querdenken-Bewegung. So berichtetet die Berliner Zeitung von einer solchen Sitzblockade gegen Mitternacht des 29./30. August 2020, als etwa 200 Menschen an der Siegessäule Richtung Hofjägerallee die Straße blockierten. Das Wegtragen der Demonstranten durch die Polizei und das Zurücklaufen in die Blockade soll damals eineinhalb Stunden gedauert und zu etlichen Festnahmen geführt haben. Dieses Katz-und-Maus-Spiel kennen ältere Bürger noch aus Berichten der Tagesschau über die westdeutsche Friedensbewegung der 1970er-Jahre.

Was am aktuellen Beispiel der Essensretter/Klimaaktivisten vielen jetzt aufstößt, ist das Beispiel der Ärztin, die nicht sofort zu ihrem Einsatzort durchgelassen wurde. Hier bleibt im Moment noch unklar, ob die Blockade dieses Notarzt-Einsatzes tatsächlich grob fahrlässig war.

Bei den Aktivisten handelt es sich um die selbe NGO, die schon einmal vor den letzten Bundestagswahlen auf sich aufmerksam machte, als einzelne Mitglieder der Essensretter das Essen vor dem Brandenburger Tor verweigerten – die Hungernden waren damit immerhin so erfolgreich, dass sie später einen eingeforderten Gesprächstermin bei Olaf Scholz tatsächlich in der Friedrich-Ebert-Stiftung bekamen, moderiert von keinem geringeren als dem ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden Martin Schulz.

Die aktuelle Regierung unter der Führung des Sozialdemokraten Scholz ist heute also nicht ganz unbeteiligt am Selbstverständnis der Bewegung. Hingegen sollten sich Kritiker der Corona-Maßnahmen genau überlegen, diese Sitzblockaden der Klimabewegung pauschal zu verunglimpfen. Denn möglicherweise greift man morgen selbst zum Mittel der Sitzstreiks, wenn die Spaziergänge vom politisch-medialen Komplex unter Ampelführung weiter diffamiert und/oder verboten werden. Greift man dann zu Sitzblockaden, könnte sich auch hier unter den blockierten Fahrzeugen Personen aus Pflege- oder Krankenhausberufen aufhalten – manche darunter sicher mit dringenden Aufgaben, die so behindert werden. Und dann?

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.

Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“

Bild: Screenshot WELT Nachrichtensender7.2.2022
Text: wal

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