Von Kai Rebmann
Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) spielte in der Eidgenossenschaft in den vergangenen beiden Jahren eine ähnliche Rolle wie das Robert-Koch-Institut (RKI) in Deutschland. Nachdem in der Schweiz die meisten Einschränkungen der Freiheitsrechte der Bürger bereits Mitte Februar aufgehoben wurden, stellte ein externer Expertenrat unter Leitung von Andreas Balthasar nun die Ergebnisse seiner Evaluierung der im Zusammenhang mit Corona getroffenen Maßnahmen vor. Der Pandemie-Modus gehört in der Schweiz schon länger der Vergangenheit an. Mit wenigen Ausnahmen in einzelnen Kantonen sind Anfang April auch die letzten Maßnahmen wie die Maskenpflicht in Gesundheitseinrichtungen, Kontaktnachverfolgung mit der Swiss-Covid-App oder die Isolationspflicht weggefallen. Seit 1. April dürfen positiv getestete Arbeitnehmer zudem nur noch zu Hause bleiben, wenn sie „aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage“ sind, ihre Arbeit zu verrichten. Ein leichtes Halskratzen genüge dann nicht mehr, wie die Arbeitsrechtlerin Nicole Vögeli Galli im Interview mit dem SRF erklärte.
Doch das war auch in der Schweiz während der letzten beiden Jahre nicht immer so. Weitreichende Einschränkungen der Freiheitsrechte mit Besuchsverboten in Altenheimen, Maskenpflicht, Schulschließungen und ähnlichen Maßnahmen waren auch in der Schweiz ständige Begleiter der Bürger. Um diese Maßnahmen aus möglichst neutraler Sicht bewerten zu lassen, hat das BAG bereits im Sommer 2020 ein Expertengremium einberufen, um den von der Schweiz während der Corona-Pandemie eingeschlagenen Weg zu einem späteren Zeitpunkt rückblickend bewerten zu können. Dem Gremium gehörten neben Andreas Balthasar als Leiter unter anderem Rechtsanwälte sowie Forscher von mehreren Universitäten aus dem In- und Ausland an. Grundlage der Bewertung waren alle zwischen Frühjahr 2020 und Sommer 2021 getroffenen Maßnahmen sowie eine breit angelegte Befragung der Bevölkerung im Januar 2021.
Maßnahmen haben bei Kindern, Jugendlichen und Senioren 'zu großem Leid' geführt
Am Dienstag dieser Woche hat das Team um Andreas Balthasar seinen Bericht nun der Öffentlichkeit präsentiert. Auch wenn die Experten dem BAG bescheinigen, seine Aufgabe „grundsätzlich gut bewältigt zu haben“ und „im Kern der medizinischen Versorgung“ gute Arbeit geleistet worden sei, wurden einige Maßnahmen sehr deutlich kritisiert. Gerade die Maßnahmen, die dem Schutz von Senioren und weiteren vulnerablen Gruppen hätten dienen sollen, etwa die Besuchsverbote in Altenheimen und Krankenhäusern, kamen bei der Bewertung durch die Experten besonders schlecht weg. Auch in der Schweiz mussten Menschen in völliger Einsamkeit sterben oder konnten ihre Angehörigen über Wochen nicht sehen. Dies habe zu „großem Leid sowie zum Teil zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen bei den Betroffenen“ geführt, wie es im Untersuchungsbericht heißt. Deutliche Kritik wurde auch an der Verschiebung und dem zeitweisen Verbot von nicht dringend notwendigen medizinischen Behandlungen angemeldet.
Aber auch die jüngsten Mitglieder der Schweizer Gesellschaft werden nach Einschätzung der Experten noch lange an den Nachwirkungen der Corona-Maßnahmen zu knabbern haben. So wurden insbesondere die Schulschließungen im Frühjahr 2020 als „nicht angemessen“ bewertet. Die Schulschließungen „führten zu großen Belastungen von Eltern und Kindern sowie Jugendlichen und ziehen möglicherweise einschneidende Folgen für die Bildungsentwicklung zahlreicher Kinder und Jugendlicher nach sich.“ Ein weiterer Kritikpunkt des Gremiums richtete sich direkt an den Bundesrat, da die Bundesregierung der im BAG eingerichteten Task Force zu viele Zuständigkeiten übertragen hat, für die laut den bestehenden Verordnungen eigentlich andere Organe und Institutionen vorgesehen waren. Im Abschlussbericht wird daher auf die „mangelnde Krisenvorbereitung bei Bund, Kantonen und betroffenen Institutionen“ hingewiesen.
Deutschland zeigt kein Interesse an Evaluierung der Corona-Maßnahmen
In Deutschland scheint das Interesse an einer ehrlichen Aufarbeitung und Bewertung der Corona-Maßnahmen deutlich schwächer ausgeprägt zu sein. RKI-Chef Prof. Dr. Lothar Wieler stellte bereits am 28. Juli 2020 klar: „Diese Regeln werden wir noch monatelang einhalten müssen, die müssen also der Standard sein, die dürfen überhaupt nie hinterfragt werden.“ Und der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ahnte im April 2020 schon, dass wir „in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“
Allem Anschein nach würden auch der aktuelle Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Christian Drosten, der Hof-Virologe der Bundesregierung, am liebsten den Mantel des Schweigens über die in Deutschland ergriffenen Corona-Maßnahmen legen. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) schreibt eine Evaluierung durch unabhängige Sachverständige verbindlich vor. In § 5 Absatz 9 IfSG heißt es dazu: „Die Evaluation soll durch unabhängige Sachverständige erfolgen, die jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag benannt werden. Das Ergebnis der Evaluierung soll der Bundesregierung bis zum 30. Juni 2022 vorgelegt werden. Die Bundesregierung übersendet dem Deutschen Bundestag bis zum 30. September 2022 das Ergebnis der Evaluierung sowie eine Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Ergebnis.“
Auf diesen Gesetzestext bezog sich FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki bei einer Anfrage, die er am gestrigen Donnerstag an den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags richtete: „Verfügen Sachverständigen für die Evaluation nach § 5 Abs. 9 IfSG über die im Gesetz genannte Anforderung hinsichtlich Unabhängigkeit (§ 5 Abs. 9 S. 3 IfSG) und inwieweit ist diese Evaluation „extern“ i.S.d. Vorschrift, wenn diese Sachverständigen beim Erlass von den zu evaluierenden Maßnahmen beteiligt waren (insb. durch Beratung von Landes- und Bundesministerien beim Erlass von Corona-Schutzmaßnahmen und Beratung im Rahmen der Bund-Länder-Gipfel, die Beschlussfassung über konkrete Maßnahmen beinhaltete)?“ Damit spielte Kubicki auf die Tatsache an, dass Christian Drosten diesem Sachverständigenrat zum Zeitpunkt seiner Anfrage noch angehörte, obwohl er die in den vergangenen beiden Jahren verhängten Maßnahmen zu einem nicht unerheblichen Teil mitzuverantworten hatte.
Welches Spiel treiben Karl Lauterbach und Christian Drosten
Kurz nachdem die Anfrage von Wolfgang Kubicki öffentlich geworden war, wandte sich Karl Lauterbach mit folgenden Worten an seine Fangemeinde auf Twitter: „Leider hat mir gerade Christian Drosten mitgeteilt, dass er die Auswertung des Infektionsschutzgesetzes für die Bundesregierung und das Parlament nicht weiter begleitet. Das ist ein schwerer Verlust, weil niemand könnte es besser.“ Kann diese zeitliche Nähe zwischen der Kubicki-Anfrage und dem Drosten-Rücktritt aus dem Sachverständigenrat Zufall sein? Die Welt hatte schon zuvor auf einige Ungereimtheiten hingewiesen. Unter anderem habe Drosten bereits im März dafür plädiert, die einzelnen Maßnahmen nicht zu evaluieren, da die Datengrundlage nicht ausreichend sei. Fast wortgleich äußerte sich zuletzt auch das Bundesgesundheitsministerium zu dieser Frage, als es darauf hingewiesen hatte, dass die Mitglieder der Kommission die Datenlage für noch nicht ausreichend hielten, „um die Wirkung der Corona-Maßnahmen und damit auch diesen Teil des Berichts abzuschließen.“
Wie die Welt weiter berichtet, habe Lauterbach diesen Umstand der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) am vergangenen Montag auch offiziell mitgeteilt und seine Parteifreundin darüber informiert, dass der Rat diese Aufgabe vorerst nicht erledigen wolle. Dass es sich dabei nicht um eine Frage des Wollens, sondern vielmehr um eine nach dem Infektionsschutzgesetz vorgeschriebene Pflicht handelt, scheint den Bundesgesundheitsminister einmal mehr nicht zu interessieren. Und auch die Mehrheit des Sachverständigenrats sehe das anders und sei von der Umsetzbarkeit des gesetzlichen Auftrags überzeugt, so die Welt. Der Sachverständigenrat hat nun noch bis zum 30. Juni 2022 Zeit, der Bundesregierung das Ergebnis seiner Evaluierung der Corona-Maßnahmen vorzulegen. Die Bundesregierung muss dieses Ergebnis dann mitsamt einer Stellungnahme dazu bis spätestens 30. September 2022 an den Bundestag weiterleiten.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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