Corona-Schlamperei im Bundestag

Es ist kein Zufall, dass der Bundestag „Hohes Haus“ genannt wird. Die Volksvertreter sollen ihr Volk (neudeutsch: „Die schon länger hier Lebenden“) nicht nur vertreten. Sie sollen auch mit gutem Vorbild voran gehen. So zumindest in der Theorie. Und demnach haben nicht nur die einzelnen Abgeordneten eine Vorbildfunktion – sondern das ganze Haus.

Und so fühlte ich mich denn auch in sicheren Händen, als ich gestern zu einem Treffen mit einer Abgeordneten (m/w/d) ins Parlament fuhr. Und mich sogar freute, endlich wieder ein bisschen so etwas wie Arbeits-Normalität zu erleben. Gemischt mit leichtem Urlaubs-Gefühl. Denn so leer wie gestern bei meiner Radfahrt zum Reichstag habe ich die Hauptstadt selten erlebt.

Auch am Eingang zum Abgeordnetenhaus, wo sonst immer große Betriebsamkeit herrscht, gab es so viel Andrang wie in einem Skigeschäft im Hochsommer – nämlich keinen. Ich wunderte mich ein wenig, dass immer noch die alten Besucherausweise in Kreditkarten-Format zum Anstecken ausgegeben werden. Das sind Veteranen des Papierkrieges mit deutlicher Patina. Und sicher auch Bakterien- und Virenschleudern. Sie werden schon desinfiziert sein, sagte ich mir.

Und wunderte mich gleich das nächste Mal: Fünf Sicherheitsleute an der Sicherheitsschleuse. So als herrsche Hochbetrieb. Na ja, so wird wenigstens Kurzarbeit verhindert, war mein positiver Gedankenansatz. Der negative: Na, also näher als anderthalb Meter stehen die sich allemal. Und offenbar dachte ich zu viel über den Sicherheitsabstand nach. Denn als ich, halb ausgezogen, durch den Metallsuchrahmen ging, piepste dieser: Ich hatte vergessen, meinen Gürtel abzulegen.

Das erklärte ich auch den Kontrolleuren, und schlug vor, mich der Ursache des Piepstons zu entledigen, nochmal durch die Schleuse zu gehen und den Gürtel selbst aufs Band zu legen. Doch in diesem Moment stürzte sich schon einer der Herren mit seinem mobilen Metallsuchgerät auf mich wie ein verdurstender Marathonläufer auf einen Wasserspender. „Nein, nein, ich kontrolliere Sie“„Wäre es wegen Corona nicht besser, wenn ich einfach nochmal ohne Gürtel durch den Rahmen gehe?“, fragte ich.

„Nein, nein, so geht es schneller“, sagte der Mann. Mein Hinweis, dass ich es nicht eilig habe, blieb unerhört.

Das Spiel ging in eine zweite Runde, nochmal die fast gleiche Frage meinerseits, nur eindringlicher, und die völlig unbedarfte Antwort des leicht untersetzen Mannes in besten Jahren, der mir, wie er erneut beteuerte, nur einen Zeitvorteil verschaffen wollte. Seine vier Kollegen standen nun gefühlt noch enger zusammen. Sie folgten gebannt der Szene, als sei es ein Hollywood-Thriller – viel war offenbar nicht los an diesem Tag, und schon gar nichts Spannendes.

Die freundliche, aber etwas inhaltslose Diskussion endete damit, dass mich der Kontrolleur sachte am Gürtel rüttelte und dann einer dezenten, eher nicht gründlichen, aber doch sehr nahen Leibesvisitation unterzog.

Die Mitarbeiterin der Abgeordneten, die mich abholte, stand – was ich gar nicht bemerkt hatte – schon die ganze Zeit ein paar Meter weiter. Sie hatte die Szene beobachtet und schüttelt den Kopf. „Das hat mich jetzt sehr erstaunt, in den Zeiten von Corona“, sagte sie.

Ich wiederum war erstaunt, als wir dann im Lift zu viert, recht eng gedrängt, nebeneinander standen – von 1,5 Metern Abstand keine Spur. Als ich das ansprach, lachten meine Mitfahrer: „Da waren Sie noch nicht in den kleinen Liften hinten, da geht es noch viel kuscheliger zu.“

Eine der Mitfahrerinnen hatte eine Küchenuniform an. „Arbeitet das Restaurant noch?“, fragte ich verwundert. „Ja, die Kantine, bis 14 Uhr“, antwortete sie, verwundert über meine Verwunderung.

Als ich auf den Besucherausweis und seinen sehr abgenutzten Zustand zu sprechen kam, und auf eine mögliche Desinfektion desselben, bekam ich nur Lachen zum Antworten: „Desinfektionsmittel sind hier Fehlanzeige, ich habe noch keine gesehen, nicht einmal in den Toiletten“.

Ziemlich desillusioniert kam ich bei meiner Abgeordneten an. Und stellte ihr eine leicht indiskrete Frage: „Wenn ich mir die Sitzung ansehe, wundert mich, wie viele Abgeordnete eine recht kurze Frisur haben. Habe ich ein überdurchschnittlich schnelles Haarwachstum? Wachsen Abgeordneten-Haare unterdurchschnittlich schnell? Oder ist hier irgendwo im Bundestag noch ein Friseur offen? Oder bietet gar jemand heimlich Friseur-Dienste an, also ein parlamentarischer Friseur-Schwarzmarkt?“

Der Höflichkeit (oder Vorsicht?) halber scheute ich mich, anzumerken, dass Angela Merkel, die nach jahrelangem Spott über ihr Äußeres in Anfangsjahren heute berühmt ist für ausgiebige Friseur-Sitzungen, haartechnisch nicht schlechter versorgt wirkt als sonst. Ich sagte auch nichts zu meiner Vermutung, die Kanzer-Friseuse könne vielleicht als systemrelevant gelten.

Die Abgeordnete lachte: „Witzig, das ist mir auch schon aufgefallen. Offenbar ist es vielen sehr wichtig, weiter telegen zu sein, vor den Kameras. Aber wie sie das machen, kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.“

Ich musterte sie misstrauisch. Aber ihr Haar war lang genug, dass ich bei ihr keinen Verdacht schöpfte.

Corona schafft völlig neue Perspektiven.

Auch auf den Bundestag: Dass es die Gesetzgeber nicht schaffen, die Mindest-Standards einzuhalten, auf die unsere Regierungen unter Berufung auf die Gesetze pochen, macht nachdenklich.

Wenigstens gab es zum Schluss noch ein Mini-Happyend. Am Ausgang, etwas diskret und gar nicht so leicht zu entdecken, war ein Desinfektionsmittel-Spraygerät an der Wand. Und es funktionierte sogar. Warum am Ausgang und nicht am Eingang, erschließt sich mir nicht. Ich hätte ja eher gedacht, dass es darum geht, die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter zu schützen. So wirkt es nun eher so, als würde die Außenwelt vor den Abgeordneten und ihren Mitarbeitern geschützt. Aber wahrscheinlich steckt dahinter eine höhere Logik, die ich als Normalsterblicher einfach nicht verstehe.


Bild: Pixabay

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