Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen
Ich habe irgendwann im Frühsommer einen Artikel publiziert, in dem es darum geht, dass wir bezüglich der Corona-Pandemie in einem „Best Case Szenario“ gefangen sind. Der Versuch, die Infektionskrankheit, Covid-19, auf einem Niveau zu halten, auf dem sie gesundheitlich für die Bevölkerung kaum relevant wird, schien geglückt. Die saisonalen Todeszahlen erreichten nur kurzfristig einen Höhepunkt und blieben im Halbjahresmittel aber auf Vorjahresniveau.
Das Problem stellt nun die zweite Welle dar, die eigentlich auch erwartet wurde. Verschärfend wirkt sich aus, dass in einigen europäischen Nachbarländern fünfstellige tägliche Neuinfektionen festgestellt wurden. Wir sind also im Zugzwang, diese Neuinfektionen numerisch zu unterbieten, wenn wir im „Best-Case-Szenario“ bleiben wollen. Das führt derzeit zu einem erheblichen Stress, überall in der Gesellschaft.
Die Frage ist, ob das notwendig ist?
Das RKI hat in seinem neuesten Positionspapier vom 13.10.2020 eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung im solidarischen Sinne gefordert, um die Last der Maßnahmen nicht allein den Risikogruppen aufzubürden. Tatsächlich gab es in europäischen Ländern schon stark restriktive Maßnahmen gegen die Altersgruppen (shielding approach) der über 65-Jährigen. Diese haben nicht ausgereicht, um diese Gruppen effektiv zu schützen. Insbesondere in Pflegeheimen gab es immer wieder schwere Ausbrüche der Erkrankung mit hohen Todeszahlen.
Lässt sich das überhaupt verhindern?
Inzwischen weisen verschiedene Wissenschaftler darauf hin, dass in Europa mit Beginn des Sommers in allen Ländern die Infektionsraten heruntergegangen sind. In Großbritannien verzögert, aber auch. Die erste Welle war überall in Europa mehr oder weniger gelaufen, nicht aber in Amerika, wo die Pandemie zeitverzögert und unter anderen Bedingungen ausbrach.
Auch in Europa aber gab es unterschiedliche Maßnahmen, die auch mit unterschiedlicher Konsequenz durchgeführt wurden. Die Osteuropäer haben sich relativ lange nach außen abgeschottet. Die Schweden sind ihrem liberalen Kurs treu geblieben. In Frankreich, Spanien und Italien gab es ungleich rigorosere Quarantänemaßnahmen für die Bevölkerung und einen heftigen Lockdown. Unsere Maßnahmen wurden dabei an Härte deutlich übertroffen.
Die Wirkung aber, war überall gleich. Warum?
Diese Frage sollte beantwortet werden, bevor man im Maßnahmen-Karussell weiterfährt.
Haben wir unser Best-Case-Szenario tatsächlich selbst durch unsere Corona-Politik bewirkt? Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass die Länder mit der höchsten „Beziehungsmobilität“, also mit Bevölkerungen die hohe Kontaktbereitschaft untereinander zeigen, am schwersten in Europa betroffen waren. Das sind Frankreich und Italien. Deutschland ist in dieser Kategorie lediglich im Mittelfeld etwas unterhalb von Portugal, einem Land, das ebenfalls glimpflich davon gekommen ist.
Sind es also in Wirklichkeit feste Bevölkerungsvariablen, die die Zahl der Infektionen bestimmen? „Beziehungsmobilität“ beispielsweise? Japan liegt am unteren Ende dieser Skala.
Wir befinden uns mit unserem „Best-Case-Szenario“ insofern in der Sackgasse, als die Maßnahmen, die wir nun durchführen (Erweiterungen der Maskenpflicht, Ampelsysteme, Mobilitätsbeschränkungen durch Beherbergungsverbote und Einreiseverbote in einzelne Bundesländer) bei der zweiten Welle, in der wir uns befinden, offensichtlich keine Wirkung zeigen.
Liegt es einfach daran, dass die „beziehungsmobilen“ Anteile der Bevölkerung, hier die junge Generation, jetzt die Hauptträger der Infektion werden? Das ist bisher nicht hinreichend öffentlich diskutiert worden, wie so vieles nicht.
Wollen wir dieser Generation jetzt auch die Kontakte verbieten, von denen sie psychisch lebt (Partys, Konzerte, Treffen) und wenn das eine vermeintliche Wirkung erzielt, wann wollen wir das als nächstes tun? Bei der nächsten Grippewelle, bei der nächsten Beunruhigung über ein Virus, das wir noch nicht einschätzen können? Wie oft wird das sein?
Wir befinden uns mit unserem bisherigen Denken in der Falle! Es besteht eine hohe Motivation, unser „Best-Case-Szenario“ als Belohnung für die Leiden, die wir auf uns genommen haben, zu sehen. Wenn wir das nicht kritisch hinterfragen, müssen wir in diesem Szenario bleiben und einen sehr hohen Preis dafür bezahlen.
Die Politik zeigt derzeit, dass sie nicht zur Umkehr fähig ist. Merkel, Söder und viele andere drohen mit dem „Worst-Case-Szenario“ (dem Katastrophenfall), wenn wir die stark repressiven Maßnahmen nicht einhalten oder gar ablehnen. Sie übergehen dabei geflissentlich, dass es auch ein „Mittel-Szenario“ gibt, dass vermutlich eintritt, wenn wir die Daumenschrauben für die Bevölkerung nicht wieder anziehen. Dieses „Mittel-Szenario“ könnte in deutlich höheren Infektionszahlen, vergleichbar mit den anderen europäischen Ländern bestehen, aber nicht mehr so hohen Todesraten, wie in der ersten Welle. Es könnte zu einer Belastung für unsere Krankenhäuser werden, aber nicht zu einer Überforderung.
Es könnte eine Zuspitzung der Pandemie in Deutschland bedeuten, würde aber durch Impfung der Risikogruppen, wie das RKI vorschlägt, nicht im Katastrophenfall enden, also nicht im „Worst-Case-Szenario“.
Die Überlegung, ob die Akzeptanz für ein „Mittel-Szenario“ nicht die gesündere Variante für unsere Gesellschaft darstellt, ist erlaubt. Die Medien sollten eine Diskussion darüber endlich zulassen und die Politik sollte sie aushalten!
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“