Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger
Formal und dem Buchstaben nach war die Weimarer Republik auch 1930 noch das, was der erste Artikel ihrer Verfassung über sie aussagte: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“, hieß es da, und: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Doch diese Verfassung war kaum mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben stand, denn seit März 1930 residierte Heinrich Brüning in der Reichskanzlei, ein Kanzler zwar nicht von Gottes, aber doch von Hindenburgs Gnaden: Der gewesene Feldmarschall des Ersten Weltkriegs Paul von Hindenburg war 1925 zum Reichspräsidenten gewählt worden, und Brüning gab sein Bestes, sich die Gunst des Feldmarschall-Präsidenten zu erhalten, da er seine Autorität vor allem vom Vertrauen des Präsidenten ableitete.
Gedacht hatte man es sich in der Verfassung anders. Zwar wurde der Kanzler vom Präsidenten ernannt, sollte aber mit dem Parlament, dem Reichstag, kooperieren und nicht vom Vertrauen des Präsidenten, sondern von der Zustimmung des Reichstags abhängig sein. Das galt in der Theorie. In der Praxis hatte man den überaus praktischen und vielfältig einsetzbaren Artikel 48 der Weimarer Verfassung gefunden, mit dem der Reichspräsident Notverordnungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen konnte, ohne das Parlament zu fragen. Das machte er auch gerne, und wenn der Reichstag, was sein Recht war, auf die Idee kam, die jeweiligen Maßnahmen wieder außer Kraft setzen zu wollen, pflegte der greise Hindenburg, was wiederum sein Recht war, den Reichstag aufzulösen: Ein aufgelöstes Parlament kann nichts mehr verlangen.
Brünings Auftrag war es, einer konservativen Restauration den Weg zu bereiten, zurück zu den Prinzipien der monarchischen Verfassung. Als sich sein Misslingen abzeichnete, wurde er aus dem Amt entfernt, indem Hindenburg die Unterzeichnung weiterer Notverordnungen verweigerte und damit Brünings Machtbasis untergrub. Brüning trat 1932 zurück. Seinem Nachfolger Franz von Papen konnte man den Rest von Redlichkeit, dem Brüning wohl noch anhing, nur mit einigem Wohlwollen unterstellen; der neue Kanzler der Weimarer Republik war der klaren Ansicht, es sei nun an der Zeit, sich des republikanischen Systems endlich zu entledigen. Sozialisiert wurde er in der Kaiserzeit, in der Umgebung von Junkern und Baronen, und was ihm am meisten behagte, war ein autoritäres System, in dem seine Gesinnungsfreunde den Ton angaben.
Ein Hindernis auf dem Weg zur Errichtung des autoritären Staates war Preußen, das als Land innerhalb des Deutschen Reiches noch immer existierte und beträchtlichen Einfluss ausüben konnte, wenn es denn wollte. Seit 1920 regiert von dem Sozialdemokraten Otto Braun, galt es noch immer als Musterrepublik, als Bollwerk der Demokratie – kurz gesagt: als lästiger und zu beseitigender Störfaktor auf dem Weg zum autoritären Einheitsstaat. Die Instrumente lagen bereit. Man musste nur das noch von Brüning ausgesprochene Verbot von SA und SS aufheben, darauf warten, dass die wieder aktivierten Horden ihre Freude an der Gewalt auf preußischem Gebiet ausleben würden, und dann wieder einmal Artikel 48 einsetzen. Etwas kürzer formuliert: Man musste eine Gefahr schaffen und dann behaupten, dass die preußische Regierung nicht in der Lage sei, dieser Gefahr zu begegnen. Im Juli 1932 war es dann so weit. Nach dem „Altonaer Blutsonntag“, bei dem es zu massiven Ausschreitungen mit vielen Toten und Verletzten kam, zog Papen am 20. Juli die Karte des Artikels 48 und entmachtete mithilfe einer Notverordnung Hindenburgs die preußische Regierung; Reichskanzler Papen übernahm als Reichskommissar die Kontrolle. Der „Preußenschlag“ war durchgeführt, ein präsidial unterstützter Staatsstreich und nichts weiter. Die rechtmäßige preußische Regierung wehrte sich wegen überdeutlicher Sinnlosigkeit kaum; immerhin reichte man beim Staatsgerichtshof eine Klage ein, die noch im Oktober des gleichen Jahres in Teilen positiv beschieden wurde – die Pflichtverletzung der preußischen Regierung als Grund für ihre Entmachtung heranzuziehen, sei rechtlich unzulässig gewesen. Geändert hat das nichts mehr, denn rechtsstaatliches Denken ohne die nötigen Machtmittel ist nicht mehr als ein freundlicher Versuch. Ein Stück Papier mache noch keine Verfassung, hatte man von Fürst Metternich schon 100 Jahre zuvor gehört, die mache nur die Zeit. Und die Zeit war über rechtsstaatliche Methoden hinweggegangen.
Ein halbes Jahr später fand, wie man weiß, die Machtergreifung Hitlers statt, mit den bekannten Folgen. Eingeläutet wurde sie schon mit dem Preußenschlag von 1932.
Das alles ist lange vorbei, und bekanntlich wiederholt sich die Geschichte nicht.
In der Hauptpropagandasendung der ARD „Anne Will“, benannt nach dem Namen der Moderatorin, hat die Kanzlerin mehr Entscheidungsgewalt in Bundeshand – das heißt: in ihrer Hand – verlangt, beispielsweise durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Sie will keine eigenständigen Ministerpräsidenten mehr, die es wagen, sich ihrer Autorität entgegenzustellen, und es kommt ihr sehr gelegen, dass es eine, wie auch immer zu beurteilende, Gefahr gibt, mit der sie ihre verfassungswidrige Intention begründen kann. Immerhin will sie vielleicht noch den Bundestag beteiligen, weil es ganz ohne ihn nun doch nicht geht, allerdings nur, um ihn als Waffe gegen den verfassungsgemäßen Föderalismus einzusetzen – ein Stück Papier macht eben noch keine Verfassung, das macht nur die Zeit. Metternich hat es gewusst und die Kanzlerin setzt es um. Wie Franz von Papen wurde sie nicht in einem freiheitlichen und demokratischen System sozialisiert, sondern in einem durchgängig autoritären, und wie Papen scheint ihr ein autoritäres System, in dem ihre Gesinnungsfreunde den Ton angeben, am meisten zu behagen.
Und die stehen auch schon bereit, um einen Ersatz für den bedauerlicherweise nicht mehr existierenden Artikel 48 der Weimarer Verfassung anzubieten. Vor kurzem hat Thomas de Maizière, einst Innen-, dann Verteidigungsminister, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen für eine Staatsreform plädiert, in der ein Ausnahmezustand für Deutschland durch eine Grundgesetzänderung geregelt werden solle. Ein neuer Krisenstab müsse eingerichtet werden, mit weitgehenden Weisungsrechten gegenüber den Ländern und der Möglichkeit durchzugreifen. Das wäre nicht mehr weit vom bewährten Artikel 48 entfernt, wenn auch mit anderer Nummer in einer anderen Verfassung. Von den Gerichten, vor allem vom obersten Gericht, ist keine Gefahr zu befürchten, wozu hat man die Spitze des Bundesverfassungsgerichts mit einem nicht eben als regierungsunfreundlich bekannten Richter besetzt?
Ob die Kanzlerin und ihre Getreuen sich den Preußenschlag Papens zum Vorbild nehmen wollen, ist nicht bekannt, schließlich interessiert sie sich ohnehin nur selten für Deutschland oder gar deutsche Geschichte, sondern eher für die Rettung des Planeten und der Menschheit. Vielleicht hat sie auch andere Vorbilder und die Ähnlichkeiten zu 1932 sind rein zufällig. Im Jahr 2010 konnte man beispielsweise vernehmen, sie werde in ihrem Südtirol-Urlaub eine Stalin-Biographie lesen, 2015 fand man die gleiche Meldung im Focus, vielleicht musste sie ihre Kenntnisse nach fünf Jahren etwas auffrischen. Ob Franz von Papen oder Josef Stalin: Man sucht sich seine Inspirationen, wo man sie findet.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Text: gast
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