Lesen Sie heute Teil 39 von „Putins Demokratur“. Warum ich Buch hier auf meiner Seite veröffentliche, können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag finden.
Der Georgien-Krieg gerät rasch in Vergessenheit, und in Moskau, ebenso wie im Westen, wird weiter eifrig die Frage diskutiert, ob es Medwedew ehrlich meint mit seiner Reform-Rhetorik oder ob bei ihm nach Putins Schule Worte und Absichten nur wenig miteinander zu tun haben. Dabei ist diese Diskussion müßig: Denn egal, was Medwedew wirklich denkt – er kann es nicht durchsetzen. Der Jurist mit dem Jungengesicht, der Putin weiterhin siezt, aber sich von ihm duzen lässt, hat keine Hausmacht. Alle wichtigen Posten in seiner Umgebung sind mit Vertrauten Putins besetzt, bis hin zum Chef des Präsidialamts.
»Medwedew ist derart umzingelt von Spitzeln, wenn der auch nur einen Gedanken daran hätte, die echte Macht an sich zu reißen, würden die das schon riechen und Putin melden, bevor Medwedew es auch nur laut aussprechen könnte«, spottete ein Kreml-Insider. Putin habe Medwedew demzufolge vor der formellen Stabübernahme sehr deutlich gemacht, dass er einen Verrat nicht überleben werde. Auf allen wichtigen Auslandsreisen begleitet den Präsidenten ein »Aufpasser« aus Putins Mannschaft. Viele Apparatschiks im Kreml nennen Putin weiter respektvoll den »Chef«. Von Medwedew sprechen sie dagegen kameradschaftlich als »Dima« – so sein Kosename. Spötter nennen ihn gar »Mini-Putin«.
Doch auch wenn Putin weiter das Sagen hat: Aus seinem Umfeld ist zu hören, dass ihm der Auszug aus dem Kreml schwer aufs Gemüt schlägt. Seinen neuen Amtssitz im Weißen Haus an der Moskwa besucht Putin nur selten, bei seinen Auftritten wirkt er gereizt. Statt auf Gipfeltreffen mit den Großen der Welt zu tuscheln, muss er, der »nationale Führer«, sich jetzt in die Niederungen der Innenpolitik begeben und etwa den Milchpreis verhandeln. Als der US-Präsident Barack Obama zu seinem ersten Besuch nach Moskau kommt, trifft er sich demonstrativ ausgiebig mit Medwedew. Putin bekommt erst nach langem Bitten einen Termin für ein kurzes gemeinsames Frühstück, was ihm sehr bitter aufstößt und der Beziehung zwischen den beiden nicht förderlich ist.
AlsMedwedews Amtszeit 2011 ihrem Ende entgegengeht, ist noch völlig unklar, ob er ein zweites Mal für die Präsidentschaft kandidieren wird oder Putin den Vortritt lässt. Der amtierende Staatschef meidet das Thema wie strenggläubige Katholiken die Pille. Bei seiner Mega-Pressekonferenz zehn Monate vor den Wahlen beantwortet er auch die ausgefallensten Fragen geduldig und ausführlich, in einem zurückhaltenden Stil, der sich sehr von Putins brachialer Art unterscheidet. Unter anderem muss Medwedew sich fragen lassen, wie er das Parkplatz-Problem in Moskau lösen will, wie er die Zukunft der Hirschzucht sieht, und welche Änderungen er bei der TÜV-Prüfung für Autos einführen wird. Nur auf die Frage, die alle Russen am meisten interessiert, bleibt Medwedew die Antwort schuldig: ob er im März 2012 wieder als Präsidentschaftskandidat antreten werde.
Das ganze Dilemma Medwedews kommt zum Vorschein, als ein Journalist ihn fragt, ob eine Freilassung des inhaftierten Kreml-Kritikers und Ex-Yukos-Chefs Michail Chodorkowski gefährlich wäre für die Gesellschaft. Medwedew hält einen Moment inne, holt tief Luft, als müsse er all seinen Mut zusammennehmen, und antwortet dann so kurz wie auf keine andere Frage: »Absolut nicht gefährlich.« Er hat bereits mehrfach vorsichtig Kritik am Verfahren gegen den ehemals reichsten Russen geäußert; laut Verfassung hätte er auch die Macht, ihn freizulassen. Aber er tut es nicht. Diese Geste wollte sich Wladimir Putin wohl für sich selbst aufheben, wie sich später zeigen sollte.
Rational betrachtet spricht für Putin 2011 eigentlich wenig gegen eine Fortsetzung des Rollentauschs mit Medwedew: Die Inszenierung nach dem klassischen Prinzip »guter Polizist« und »schlechter Polizist« funktioniert bestens. Putin trifft alle wichtigen Entscheidungen und kann im Inland die Sehnsucht nach einer starken Hand und einem strammen Nationalismus bedienen.
Auf der anderen Seite bietet Medwedew eine ideale Projektionsfläche für die Wünsche und Hoffnungen der liberal gesinnten Russen und ist als Alibi im Westen außerordentlich effektiv. Es sind vor allem irrationale Gründe, die aus Putins Sicht dennoch für eine Rückkehr in den Kreml sprechen könnten: Zum einen ist er es leid, zumindest formell nur die zweite Geige zu spielen und in der Provinz herumzureisen, während sich seine Marionette Medwedew mit ausländischen Staatsmännern trifft und – etwa auf G8-Gipfeln – im Mittelpunkt steht. Putin glaubt laut Insidern immer stärker an seine historische Rolle, fühlt sich als Retter Russlands, und mit so einem Anspruch steht man nicht gerne in der zweiten Reihe. Zum zweiten regt sich offenbar ein Charakterzug, der bei Putin nicht nur wegen seiner Ausbildung beim KGB besonders ausgeprägt ist: Misstrauen. Insider sprechen sogar von paranoiden Zügen. Vieles spricht dafür, dass Putin die demokratische Rhetorik Medwedews Angst machte, obwohl diese Rhetorik sich später als Teil einer mit Putin abgesprochenen, vielleicht sogar von ihm selbst erfundenen Inszenierung entpuppte. Oder, genauer gesagt: dass er begann, sich Sorgen zu machen, das ständige Reden über die Missstände und die Forderungen nach Reformen könnten nicht nur, wie erhofft, als Blitzableiter funktionieren, sondern von den Menschen ernst genommen oder gar als Handlungsanleitung aufgefasst werden.
Auf einem stramm durchinszenierten Parteitag von »Einiges Russland« mit 11 000 Gästen Ende September 2011 wurde dann das Geheimnis gelüftet: Dass jetzt wieder er selbst als Präsidentschaftskandidat antrete, habe er mit Medwedew schon vor Jahren gemeinsam verabredet, eröffnete Putin den Delegierten, die ebenso baff waren wie die Millionen Zuschauer, die im ganzen Land die Liveübertragung verfolgten. Jahrelang hatten sich alle Politiker und Experten den Kopf zerbrochen und spekuliert, wer das größte Land der Erde nach dem Ende von Medwedews erster Amtszeit weiter führen würde. Jetzt mussten sie erfahren, dass Putin und Medwedew vier Jahre lang die Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt und die höchsten Staatsämter untereinander aufgeteilt hatten wie zwei Kumpel ihr Motorboot.
Selbst Michail Gorbatschow, der Vater von Glasnost und Perestroika, der sich lange mit Kritik an Putin sehr zurückgehalten hat, findet für seine Verhältnisse halbwegs klare Worte: »Jetzt wird klar, dass (zwischen Putin und Staatschef Dmitri Medwedew) alles schon lange vereinbart war. Wenn der künftige Präsident nur am Machterhalt interessiert sein sollte, würden dies für Russland sechs verlorene Jahre.« Sechs Jahre, nebenbei bemerkt, weil unter Medwedew die Amtszeit des Staatschefs von bisher vier auf sechs Jahre verlängert wurde.
Von der orthodoxen Kirche kommt dagegen höchstes Lob. »Wann wurde in der russischen Geschichte je die Macht friedlicher, würdevoller, ehrlicher und freundschaftlicher übergeben?«, sagte der Erzpriester und Kirchensprecher Wsewolod Tschaplin.
»Das ist ein wirkliches Beispiel von Güte und Moral in der Politik.« Viele Verantwortliche im Westen wie US-Präsident Obama, aber auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, müssen sich düpiert fühlen: Sie hatten in ihrer Politik ganz auf Medwedew gesetzt. Jetzt wurde klar: Sie sind einer Täuschung aufgesessen.
Die deutsche Wirtschaft begrüßt die Rochade. »Putin ist ein Kenner Deutschlands. Wir haben mit ihm in den vergangenen elf Jahren bereits zusammengearbeitet. In seiner ersten Amtszeit als Präsident wurden viele Initiativen ins Leben gerufen, die heute noch die deutsch-russischen Beziehungen maßgeblich bestimmen«, lobte Rainer Lindner vom Ostausschuss. Die Wirtschaftsbeziehungen stünden auf einem soliden Fundament.
Viele kritische Moskauer sehen das ganz anders: »Jetzt ist es Zeit, auszuwandern«, sagte ein namhafter Bürgerrechtler im privaten Gespräch. Er hat zwar nicht darum gebeten, seinen Namen nicht zu nennen – aber in diesen Zeiten ist es besser, kritischen Geistern unnötige Risiken zu ersparen.
Medwedew wird als Fußnote in die russische Geschichte eingehen, als tragikomische Figur. Wie so oft in den vergangenen hundert Jahren war seine Amtszeit mit großen Hoffnungen bei den Menschen verbunden, die dann bitter enttäuscht wurden. Eine Vielzahl solcher Erfahrungen – von der Revolution über Chruschtschows Tauwetter bis hin zur Perestroika und schließlich dem Wechsel zur Marktwirtschaft – hat einen großen Teil der russischen Bevölkerung in das verfallen lassen, was Fachleute als »politische Depression« bezeichnen: ein Gefühl, keinen Einfluss auf das eigene Schicksal zu haben und von den Mächtigen ohnehin immer nur betrogen zu werden. Diese Grundstimmung ist der verlässlichste Grundpfeiler für Putins Autokratie. Doch anders als bei früheren Enttäuschungen reagiert erstmals eine große Zahl von Menschen nicht mit Resignation, sondern mit Widerstand. Ganz offensichtlich hat Putin mit seinem Puppentheater die unendlich scheinende Geduld der Russen überspannt – oder zumindest die eines nennenswerten Teils. Und so kommt es wenige Monate nach dem Jubeltreffen zu Ereignissen, die wohl kaum ein Russland-Experte für möglich gehalten hätte.
Frühling im Dezember So stramm der Kreml die großen russischen Fernsehsender auch am Riemen hält – manchmal zeigen ihre Bilder doch mehr, als den Machthabern lieb ist. Da war eine kurze Einblendung am Sonntag, dem 4. Dezember 2011, dem Tag nach der Parlamentswahl, im Nachrichtensender Rossia 24: ein Balkendiagramm mit den Wahlergebnissen aus der Region Woronesch. 62,32 Prozent für die Putin-Partei »Einiges Russland« waren zu sehen, darunter 31,11 Prozent für die Kommunisten, 17,22 Prozent für »Gerechtes Russland«, 11,72 Prozent für die Liberaldemokraten und 6,59 Prozent für die anderen. Man musste schnell im Kopfrechnen sein, um die Botschaft zu erfassen: Auf sage und schreibe 128,96 Prozent brachten es die Parteien demnach zusammen. Aus dem Bezirk Rostow meldet das Staatsfernsehen laut Bloggern sogar mehr als 146 Prozent.
Im Westen könnte man solche Ergebnisse getrost als Computerfehler abtun. In Russland hingegen sind sie symbolisch für die gesamte Duma-Wahl: Es ging nicht mit rechten Dingen zu, und den Gesetzen der Mathematik, der Logik und vor allem auch des Anstands wurde fast im ganzen Lande Hohn gesprochen. Kaum eine Region in dem größten Flächenstaat der Welt, aus der nicht von haarsträubenden Unregelmäßigkeiten und Betrügereien bei dem Urnengang zu hören war.
Es ist bemerkenswert, dass es Putins Partei trotz massiven Drucks und Fälschungen nach den vorläufigen Ergebnissen nur auf rund 49,5 Prozent brachte, also auf knapp 15 Prozentpunkte und rund 12 Millionen Wähler oder Geisterstimmen weniger als vor vier Jahren. Und nicht weniger beeindruckend ist, dass die Wahlfälschungen dank moderner Technologien wie dem Internet und Handykameras heute so umfassend dokumentiert und öffentlich wurden wie niemals zuvor. Für westliche Verhältnisse wäre ein Ergebnis von knapp 50 Prozent für die Regierungspartei ein Traumergebnis. Nicht einmal Horst Seehofer mag heute wohl von einem solchen Resultat für seine CSU träumen. In einer »gesteuerten Demokratie« dagegen ist es ein Menetekel, wenn nicht eine Sieben oder zumindest eine Sechs vorne steht. Wenn bei diesen gesteuerten Wahlen trotz Einsatz äußerster Mittel keine überwältigende Mehrheit mehr herauskommt, zeigt das, wie stark der Unmut der Menschen gewachsen ist. Dies hat auch einen hausgemachten Grund: Viele Russen hatten Medwedews Reform-Rhetorik geglaubt und auf Reformen gehofft. Sie waren nicht nur über die »Machtrochade« als solche enttäuscht – sondern auch über das Eingeständnis Putins, dass es sich von Anfang an um ein abgekartetes Spiel gehandelt hatte und er und Medwedew ihnen vier Jahre lang eine Schmierenkomödie vorgespielt hatten.
Tricksereien, Fouls und Widerlichkeiten jeder Art seitens des Staats gehören im heutigen Russland zum Alltag – wie der Wahlsonntag bezeugte. Journalisten der Nowaja gaseta, bei der einst die ermordete Anna Politkowskaja arbeitete, gelang es etwa, sich unter die Wahlfälscher zu schleusen: Zwielichtige Drahtzieher heuerten Wähler an, die in Dutzenden Lokalen nacheinander mehrfach ihre Stimme abgaben – und vorbereitete Wahlzettel, die sie in »Känguru-Taschen« unter der Oberkleidung mit sich führten, im Dutzend in die Urnen schmissen. Hinzu kommt, dass zahllose Staatsbedienstete, von einfachen Angestellten bis hin zu Soldaten, unter Androhung der Entlassung zur Stimmabgabe für die Putin-Partei genötigt wurden. Besonders stark waren die Propaganda-Angriffe auf die kritische Wahlbeobachtungs-Organisation Golos, die bereits vor den Wahlen zahlreiche Regelverstöße notiert hatte.
Die Leiterin der Organisation wurde am Flughafen mehrere Stunden festgehalten, Golos selbst massiv im Fernsehen attackiert und als fünfte Kolonne Washingtons dargestellt. Am Wahlabend kam es zu zahlreichen Festnahmen von mehreren hundert Kreml-Kritikern, die sich auf die Straße trauten – vor allem in Moskau und Sankt Petersburg. »Das waren die schmutzigsten und hinterhältigsten Wahlen im postsowjetischen Russland«, empörte sich der liberale Politiker Wladimir Ryschkow – und sprach von »Bespredel«. Das Wort ist aus der russischen Gefängnissprache hervorgegangen und bedeutet so viel wie »extreme Gewalt«, »völlige Willkür« und »Überschreiten aller Grenzen«. Das seien keine Wahlen gewesen, empört sich die einstige Hoffnung der Demokraten, die künftige Duma sei illegitim. Präsident Medwedew bezeichnet den Urnengang dagegen als »fair, ehrlich und demokratisch«.
Dann geschieht, womit fast niemand gerechnet hat: Am Tag nach der Wahl gehen in Moskau und Sankt Petersburg plötzlich Tausende auf die Straße und machen lautstark ihrem Unmut über die Manipulationen an den Wahlurnen Luft. Es sind die größten Demonstrationen seit Jahren. Die Polizei geht mit der üblichen Härte gegen die Demonstranten vor, es kommt zu blutigen Zusammenstößen. Allein in Moskau nehmen die Ordnungshüter – sofern man diesen Begriff hier überhaupt verwenden kann – rund 300 Menschen fest. Putin lässt kurzen Prozess machen, einige der Protestierenden werden eilig abgeurteilt, zu bis zu 15 Tagen Arrest, wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Die gesteuerten Medien verschweigen die Proteste. Viele Russen wissen nichts von ihnen.
Doch statt den Protest zu ersticken, scheint ihn die harte Reaktion nur weiter anzufachen. Michail Gorbatschow meldet sich wieder zu Wort und fordert Neuwahlen. Der letzte Präsident der Sowjetunion ist zwar in Russland so unbeliebt, dass sein Wort hier kaum Gewicht hat. Für den Westen ist seine Einschätzung dagegen sehr wichtig. Putin greift zu den bekannten Methoden. Als die Opposition eine Demonstration auf dem Platz der Revolution plant, kommt die Nachricht, dass dieser unerwartet für Renovierungsarbeiten geschlossen wurde. Hastig werden auch auf dem Roten Platz Instandsetzungsarbeiten begonnen. Putin setzt aufs Durchmogeln. Und auf Zynismus statt auf Dialog. Er macht sich lustig über die weißen Bänder, die seine Gegner sich als Zeichen des Protests ans Revers heften: »Ehrlich gesagt, ich habe gedacht, es sind Präservative.« Jemanden mit einem Kondom zu vergleichen, ist in Russland eine der schlimmsten Beleidigungen. Putin deutet dann auch noch an, die Demonstranten agierten im ausländischen Interesse und für ausländisches Geld: »Was soll man dazu sagen? Kommt zu mir, Bandarlogi! Ich liebe Kipling seit meiner Kindheit.« Vielen bleibt bei dieser Art von Humor das Lachen im Hals stecken. »Kommt zu mir, Bandarlogi« ist ein Zitat der Pythonschlange aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Die hypnotisiert mit diesem Spruch freche Bandarlogi-Affen, um sie anschließend zu töten. Er, der Staatschef als mörderische Python, seine Gegner als Affenbande, die vor ihm zittert.
Schnell stellt sich heraus, dass Putin diesmal den Bogen überspannt hat. Die Menschen schlagen mit dem seit Sowjetzeiten berüchtigten Politikwitz zurück. Etwa: »Mit was für einer Auto-marke ist Putin zu vergleichen? Mit einem Lada – weil ausländische Autos spätestens nach sechs Jahren ausgetauscht werden.« Im Internet finden Bilder und Videos, die bisher allenfalls in kleineren Kreisen die Runde machten, plötzlich ein Massenpublikum. Etwa ein Videoclip, in dem ein schüchterner Putin bei starkem Regen einen uralten Lada anhält, den Fahrer bittet, ihn mitzunehmen, und dann um den Preis feilscht – 100 Rubel, umgerechnet damals rund 2,50 Euro. In einem anderen Streifen flirtet er mit seinem Juniorpartner Medwedew – für westliche Verhältnisse kein Aufreger, aber in Russland ein Tabubruch, weil dort Homosexualität so verachtet ist wie bei uns Pädophilie. Ein Sketch der deutschen »heute show« aus dem ZDF über »lupenreinen Wahlbeschiss« mit russischen Untertiteln wird auf youtube zum Hit. In den neuen Medien wird die Propaganda im Staatsfernsehen aufs Korn genommen. Nur leicht entstellt oder mit Musik unterlegt geben die Bilder, die eigentlich Putins Macht und Größe zeigen sollten, ihn der Lächerlichkeit preis. Aus Propaganda wird Realsatire, etwa wenn Putin sich als U-Boot-Kapitän, Tigerbezwinger und Jetpilot in Szene setzt.
Immer mehr Menschen kommen zu Demonstrationen, in immer mehr Städten. Mit Alexej Kudrin zeigt einer der engsten Vertrauten Putins plötzlich öffentlich Sympathie für die Protestaktionen. Fast scheint es, als könne die Stimmung im Land kippen.
Die Angst, bisher steter Begleiter der meisten Menschen in Russland, scheint zu schwinden. Über facebook und andere soziale Netzwerke finden die Unzufriedenen rasch zueinander und organisieren sich. Antreiber des Protests ist die junge, internetaffine Bevölkerung in Moskau und den großen Städten, flankiert von den bekannten Kreml-Kritikern und dem Kern der alten Dissidenten- und Menschenrechtsbewegung. Der Geheimdienst FSB hat auf die Server der ausländischen Netzwerke keinen Zugriff.
Allein bei facebook melden sich binnen kurzer Zeit 30 000 Menschen für eine Demonstration an. Am 24. Dezember 2011 herrscht in Moskau höchste Anspannung. Die Opposition erwartet den größten Massenprotest seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Behörden haben ihn genehmigt – wobei diese Wortwahl eigentlich falsch ist, denn nach den immer noch gültigen Gesetzen aus der Jelzin-Zeit müssen Demonstrationen lediglich angemeldet werden, und es ist explizit keine Genehmigung notwendig. Dieses Gesetz jedoch ignorieren Putins Behörden konsequent. Der Moskauer Sacharow-Prospekt wird schon in der Nacht abgesperrt; Beamte stellen, wie bei Demonstrationen in Russland üblich, Gitter-Absperrungen und Metallsuchgeräte auf. Schon Stunden vor dem offiziellen Beginn fließt eine nicht enden wollende Kette von Menschen auf den Andropow-Prospekt. Die breite Ausfallstraße im Nordosten des Zentrums ist schnell überfüllt. Das hindert die Ordnungshüter nicht, von einer »schwachen Teilnahme« mit weniger als 30 000 Demonstranten zu sprechen. Die Veranstalter nennen die Ziffer 120 000. Die Wahrheit dürfte wohl dazwischen liegen, bei 70 000 oder 80 000 – wie Moskauer Medien unter Berufung auf anonyme Polizeiquellen berichten.
Für einen kurzen Moment stockt vielen Menschen der Atem. »Ich sehe hier genügend Leute, um den Kreml und das Weiße Haus jetzt sofort zu stürmen«, schreit Alexej Nawalnij, der in diesen Tagen zu einer Symbolfigur des Protests wird, mit heiserer Stimme von der Tribüne auf dem Moskauer Sacharow-Prospekt.
Einige Polizisten, die zuvor eher gelassen mit ihren XXL-Winteruniformen an den Absperrungen standen, zucken zusammen. Es dauert ein paar Augenblicke, bis aus der Masse der Demonstranten ein zaghaftes »Ja« zu hören ist. Viele sehen sich erschrocken an. »Aber wir sind eine friedliche Kraft. Wir werden das nicht tun. Bis auf Weiteres«, fügt Nawalnij nach einer Kunstpause hinzu. Die Menschen atmen auf, viele lachen. »Doch wenn diese Gauner und Diebe uns weiter betrügen wollen, weiter lügen und stehlen, holen wir uns, was uns gehört«, brüllt der charismatische Jurist und Blogger, und aus Abertausenden Kehlen schallt ein begeistertes »Ja« durch den eisigen Frost.
Nawalnij wurde mit einer Website populär, auf der er Korruption und Amtsmissbrauch bis in die höchsten Sphären aufdeckte, trotz massiver Drohungen. Seit ihn eine Richterin am 6. Dezember 2011 für seine Teilnahme an einer Demonstration gegen die Wahlfälschungen zu 15 Tagen Haft verurteilte, avancierte der Familienvater zu einer Ikone der Protestbewegung – auch wenn er bisweilen mit bedenklich nationalistischen Parolen auffällt.
Keinem der Redner stimmt die Menge so begeistert und lautstark zu wie Nawalnij. Von Kommunisten über Nationalisten bis hin zu Liberalen, von Schülern bis hin zu Rentnern – es ist eine bunte Masse, die sich auf dem Sacharow-Prospekt zusammengefunden hat. Das Einzige, was sie eint, ist die Unzufriedenheit über den Wahlbetrug und das Putin-Regime. Die Demonstration hat Happening-Charakter. »Früher waren Demos bei uns eine ernste Sache, diesmal ist es die reinste Freude, all die witzigen Spruchbänder und Plakate zu sehen, das ist unglaublich, was unser Volk für Talente hat«, freut sich ein Rentner mit frostroter Nase und reibt sich die Hände. Der »nationale Führer« wird auf der Tribüne der Demonstranten zum Ziel von bissigem Spott. Einer der Redner tritt als Präservativ verkleidet auf und empört sich, dass Putin aus seinem Privat leben ein »Staatsgeheimnis« mache und offenbar sehr viel zu verbergen habe. Viele Plakate zeigten den Premier mit Kondomen, etwa um den Kopf gewickelt, wie bei einer Babuschka das Kopftuch. Unzählige Plakate zu dem Thema sind zu sehen, zum Beispiel mit Wortspielen wie: »Ein gutes Präservativ ist ein neues Präser vativ«. Hunderttausende sehen die Humor-Attacken schon Stunden später im Internet per Mausklick. »Wir haben die Angst verloren«, schreit Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow in die Menge.
Es ist ein Mann mit besten Drähten in den Kreml, der in diesen aufregenden Tagen in vertraulichen Gesprächen davor warnt, den ehemaligen KGB-Offizier zu unterschätzen. »Im Kreise seiner Vertrauten hat er gesagt, die Opposition solle sich jetzt ruhig mal ein wenig austoben. Nach den Präsidentschaftswahlen werde er sie dann« – es folgt ein russisches Fluchwort, das im Fernsehen gewöhnlich mit einem Piepsen überblendet wird und am ehesten mit dem englischen »fuck« zu übersetzen ist – und zwar, so wörtlich, »wie es sich gehört«. Einer der prägendsten Charakterzüge Putins sei, so der Insider, dass er äußerst nachtragend ist: »Rache ist für ihn heilig. Aber er lässt sich damit Zeit, betreibt sie sehr ausgefeilt und liebt es, wenn ihm das Opfer kalt serviert wird.« So überzogen diese Warnung damals schien – sie sollte sich als richtig herausstellen.
Im Präsidentschaftswahlkampf schlägt der »nationale Führer« selbst für seine Verhältnisse ungewohnte Töne an. Von Kampf ist viel die Rede, von den Russen als Sieger-Volk, von Gefahren fürs Vaterland und sogar vom Sterben vor Moskau: Seine Rede im Moskauer Luschniki-Stadium am »Tag des Vaterlandsverteidigers«, dem 23. Februar 2012, klingt, als befände sich der frühere KGB-Offizier in einem gefühlten Kriegszustand. Er zitiert aus einem Gedicht von Michail Lermontow, wie die Soldaten davon träumten, für die Heimat zu sterben. Anders als damals, 1812, sei der Gegner heute nicht mehr Napoleon, sondern »diejenigen, die sich in unsere Angelegenheiten einmischen«. Er sagt: »Der Kampf um Russland geht weiter. Wir werden siegen« und »Wir sind ein Sieger-Volk, das haben wir in den Genen«.
In einem Reklamefilm entwerfen Putins Wahlkämpfer ein düsteres Szenario für den Fall, dass der »nationale Führer« die Wahlen nicht gewinnt. »Russland ohne Putin« heißt das Werk. Zu sehen sind Umtriebe von Faschisten mit Hakenkreuzen. Es ist die Rede von einem Hungerwinter, von einem Zerfall Russlands, von Hunderttausenden Menschen auf der Flucht, einem Bürgerkrieg, Anarchie, einem Gottesstaat im Kaukasus, einem Einmarsch der NATO in Kaliningrad und einer Eroberung des russischen Ostens durch China. All das, so die Botschaft, wird passieren, wenn Putin die Wahlen nicht gewinnt.
Den vorherigen, achtunddreißigsten Teil – Der Vormarsch über alle Grenzen – finden Sie hier.
Den ersten Text der Buchveröffentlichung finden Sie hier.
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