Ein Gastbeitrag von Roger Letsch
Wie ein roter Faden zieht sich das „selber schuld“ durch die deutsche Berichterstattung über die Gewalt, die durch Frankreich rollt. Gern wird darauf verwiesen, es mangele in der französischen Gesellschaft an gerechter Teilhabe und Chancengleichheit. Auch ist viel von sozialer Benachteiligung und Rassismus die Rede. Mit anderen Worten: Die Politik hat Schuld, weil sie die Probleme der Menschen nicht gelöst hat, wie auch ZDFheute getwittert hat:
„Bei den Ausschreitungen in #Frankreich wurden hunderte Fahrzeuge in Flammen gesetzt, hunderte Personen festgenommen. Es sind auch ungelöste Probleme, wie soziale Benachteiligung und #Rassismus, die mit voller Wucht wieder an die Oberfläche drängen.“
Für Georgine Kellermann, Enfant terrible vom Dienst, hat der französische Staat die Zuwanderer in Banlieus gesteckt und dort „sich selbst überlassen“. Für die einen wäre das mit der Möglichkeit verbunden, frei und für sich selbst zu entscheiden. Für alle Fans des Etatismus, für die der Staat für alles, der Einzelne für nichts die Verantwortung zu tragen hat, ist das eine Todsünde:
„Sie haben offensichtlich keine Ahnung. In Frankreich sind es vor allem Menschen aus den ehemaligen Kolonien. Deren Vorfahren mussten nach Frankreich, weil sie zum Beispiel für die Franzosen gearbeitet hatten. Und dann wurden sie in die Banlieus gesteckt und dort sich selbst überlassen.“
Seltsamerweise läuft es in Deutschland, wo der Staat sich „helfend“ in alle Aspekte des Lebens von Migranten einmischt, auch nicht besser, wie wir noch sehen werden.
Man kann in der Ursachenforschung natürlich bis ins Frankreich der 1950er Jahre zurückgehen und Ghettoisierung sowie mangelnde Akzeptanz der algerischen Einwanderer beklagen. Doch das ist lange her und erklärt höchstens einen kleinen Teil des Problems. Dass etwa die Aufstände infolge der Tötung eines Jugendlichen durch einen französischen Polizisten auf Belgien übergriffen, obwohl die Belgier mit der Angelegenheit nicht das Geringste zu tun hatten, lässt sich so nicht erklären.
Frankreich erlebt gerade einen „George-Floyd-Moment“, und so schrecklich und vermeidbar die auslösenden Ereignisse in Minneapolis und Paris auch waren, so wenig hat die ausgelöste Gewalt mit mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe oder sozialer Ungerechtigkeit zu tun. Es prallen vielmehr völlig unterschiedliche und inkompatible Vorstellungen aufeinander, wie die Gesellschaft in den USA (2020) oder Frankreich (2023) organisiert und ausgestaltet sein soll und wer wem was aus welchem Grund schuldig sei. Wer so die Macht an sich reißt, sucht keine Gerechtigkeit, sondern will Beute machen. Es handelt sich um den gewaltsamen Zusammenprall von Wertesystemen innerhalb ehemals stabiler Staaten und damit schon per Definition um Bürgerkriege.
Friede in unserer Zeit
In Paris, Marseille oder Nizza treffen die Soldaten des Propheten auf eine zwar ratlose, aber noch weitgehend intakte französische Zentralgewalt. In Berlin, Mannheim oder Düsseldorf herrscht meiner Meinung nach auch Bürgerkrieg, dort werden Geländegewinne jedoch vorwiegend (noch) auf dem Verhandlungsweg erzielt. Das fühlt sich friedlicher an, führt aber auf lange Sicht zu gleichen Ergebnissen: dem Rückzug eines Staatssystems und die Etablierung einer neuen Macht. In Frankreich sieht man das bereits in der Fläche, in Deutschland vollzieht sich der Rückzug als Verzicht auf Hoheitsrechte „um des lieben Friedens willen“. In Frankreich mit seinem stark hierarchischen Präsidialsystem fällt allerdings der Blutzoll höher aus, weil dort eine Zentralgewalt existiert, die sich der Übernahme widersetzt, die Mittel dazu hat und diese auch anwendet.
Idealerweise wäre diese „Zentralgewalt“ das Gesetz, doch weil dieses missachtet wird, kommt eben Gewalt zum Einsatz. Das Problem ist, dass Gesetze einen homogenen Wirkungsraum brauchen, in dem sie selbstverständlich wirken und nur selten erzwungen werden müssen. Erodiert dieser Wirkungsraum so schnell wie in Deutschland, wachsen die sozialen Kosten für die Durchsetzung so stark, bis sie untragbar werden.
Stolz meldete etwa das ARD-Magazin „Kontraste“, man habe als einziges Medienteam einen „embedded journalist“ zum „Friedensabkommen“ zwischen syrischen und libanesischen Großfamilien aus Duisburg entsandt. „Wir waren dabei“, heißt es. Zwar nicht bei den eigentlichen Verhandlungen, dazu lassen sich die Parteien und der „Friedensrichter“ nicht herab. Aber zum Fototermin anlässlich der „Verkündung des Friedens“ war eine deutsche Kamera zugelassen. Als Gast im eigenen Lande.
Massenschlägereien sind nicht nur im Ruhrgebiet seit einigen Jahren an der Tagesordnung, und auch wenn in Umschreibungen oft von „jungen“ oder „aufgebrachten“ Männern die Rede ist, belegt meist schon die Größe der involvierten Gruppen, mit wem man es zu tun hat. Auch ist das in den Meldungen erwähnte Amt des „Friedensrichters“ in unserer Rechtspflege kein Begriff. Wer ernennt solche „Richter“, wie kommen deren Urteile zustande? Gibt es Berufungsinstanzen? Auch im vorliegenden Fall aus Düsseldorf ist nichts darüber bekannt, welche wechselseitigen Verpflichtungen den Parteien aus dem Friedensspruch entstehen. Nur eines steht fest: Der deutsche Staat und seine Gesetze sind bedeutungslos.
Hat Deutschland schon aufgegeben?
Das deutsche Gesetz ist formal noch gültig, verzichtet aber darauf, der Maßstab zu sein für diesen Frieden zwischen „Libanon und Syrien“. Der Zusatz, man fordere die deutschen Behörden trotz des Friedensschlusses zu weiteren Ermittlungen auf, ist herablassend, und wir dürfen davon ausgehen, dass die Ermittler wenig Lust dazu verspüren werden, den „Frieden“ zu stören. Ein verheerendes Signal, welches oberflächlich betrachtet in den betroffenen Gebieten tatsächlich zu mehr „Frieden“ führt. In der Statistik! Man spielt nach den neuen Regeln und involviert die Polizei nicht mehr, was den personell und moralisch angeschlagenen Hütern des Gesetzes nur recht sein dürfte. Es ist ein Frieden des Wegguckens und Wegduckens.
Frankreich kämpft, während Deutschland schon aufgegeben und akzeptiert hat, dass Clans, die sein Rechtssystem missachten, die Bedingungen für „Frieden“ untereinander aushandeln. Demografisch sieht es indes für beide Länder nicht gut aus, und auch wenn sich die autochthonen Franzosen und Deutschen in ihren kleiner werdenden Enklaven noch einige Zeit werden halten können, scheint der ökonomische Abstieg programmiert. Doch auch wenn es unmöglich ist, hinter den Ereignishorizont des demografischen „Big Bang“ zu schauen, könnte dieser Abstieg auch ausbleiben.
Es waren nämlich nicht die Zugewanderten, die zuerst kulturelle Normen und Traditionen infrage stellten und geringschätzten, das waren die Franzosen und Deutschen selbst. Sollte sich rechtzeitig erweisen, dass es gerade deren verachtete Traditionen waren, die den Wohlstand in Europa erst möglich gemacht haben, werden die „neuen“ Franzosen und Deutschen vielleicht davor zurückschrecken, alles final kurz und klein zu hauen. Die Aussicht, dass zumindest in Deutschland alle Politik es auf diese Nagelprobe ankommen lassen will, ist kein schöner Gedanke.
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Dieser Beitrag erschien zuerst auf Achgut.com
Roger Letsch, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de, wo auch dieser Beitrag zuerst erschien.
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