Die Sowjetunion wäre heute 100 geworden – und sie lebt fort Von Lenin über Andropow zum "Great Reset"

Heute vor hundert Jahren wurde die Sowjetunion gegründet. Ein Völkergefängnis, das sich als Paradies der Werktätigen ausgab. Und für das auch heute noch einige im Westen, vor allem Intellektuelle, eine gewisse Sympathie pflegen. Bevor ich selbst 1990 nach dem Abitur mit zwei Koffern zu meiner Jugendliebe nach Moskau zog, hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, wie massiv die Verwerfungen sind, zu denen fast 70 Jahre kommunistischer Zwangsherrschaft in Russland geführt haben. Die Gesellschaft ist bis heute vergiftet. Auch das Phänomen Putin ist ohne die Sowjetunion nicht zu verstehen. Er ist ein Kind derselben – als gelernter KGB-Offizier. Er bezeichnete ihren Zusammenbruch als die größte geopolitische Katastrophe des 21. Jahrhunderts. Und er träumt davon, sie wiederherzustellen. Was es umso erstaunlicher macht, dass auch Konservative auf seine Rhetorik hereinfallen und in ihm einen Hüter konservativer Werte sehen.

Was viele völlig übersehen: Die Sowjetunion lebt fort. Genauer gesagt die sowjetische Langzeitstrategie. Ihr Ziel war es, wie zahlreiche Überläufer übereinstimmend berichteten, den Westen zu unterwandern und zu „zersetzen“. Die Werte und Traditionen, die unsere Demokratien einst auszeichneten, sollten unterhöhlt, diffamiert und überwunden werden. Etwa die Familie als Kernzelle der Gesellschaft.

Die Taktik war, vor allem die Universitäten zu infiltrieren und dann in die Institutionen einzudringen. Der KGB-Überläufer Yuri Bezmenov beschreibt etwa, dass „ideologische Diversion“ für den sowjetischen Geheimdienst weitaus wichtiger war als Spionage – 85 Prozent seiner Ressourcen habe der KGB dafür aufgewandt. Bezmenov spricht von „Subversion“, auf Deutsch: Zersetzung.

Was Bezmenow in den 1980er Jahren als Ziel der sowjetischen Langzeitstrategie beschreibt, hört sich heute in Vielem an wie eine Beschreibung der Gegenwart. Beispiel: „Die Machtstruktur wird langsam von Einrichtungen und Gruppen von Leuten zersetzt, die weder die Qualifikationen, noch den Willen der Leute hinter sich haben ihnen die Macht zu geben, und doch haben sie Macht.“ Wettbewerb werde ausgeschaltet.

„Ziel ist es, die Wahrnehmung der Realität bei jedem Einzelnen in einem so hohen Maße zu verzerren, dass sie trotz der vielen Information, die sie bekommen, keine logischen Schlüsse mehr ziehen können, wenn es darum geht, sich selbst, ihre Familien und ihr Land zu verteidigen“, so Bezmenow, der selbst beim KGB als Propagandist gearbeitet hatte, 1984: „Es ist ein Gehirnwäsche-Prozess, der sehr langsam vor sich geht. Die erste Phase ist die Demoralisierung. Sie dauert 15 bis 20 Jahre. Warum so lange? Weil es so lange braucht, um Generationen von Studenten zu erziehen, und sie der feindlichen Ideologie auszusetzen, dem Marxismus. Der muss in die Hirne von mindestens drei Generationen eingepflanzt werden.“ Dabei sei es wichtig, dass diese Ideologie nicht konfrontiert werde mit westlichen Grundwerten und Patriotismus.

Sie sind überall

„Das Resultat kann man sehen an den meisten Menschen, die in den 1960er Jahren die Universitäten abgeschlossen haben“, so Bezmenow 1984: „Sie haben jetzt die Machtpositionen inne. Sie sind überall. Und sie sind kontaminiert. Sie sind darauf abgerichtet, in einer bestimmten Weise zu reagieren. Man kann sie nicht überzeugen von etwas, selbst wenn man ihnen beweist, dass weiß weiß ist und schwarz schwarz. Sie können die Weltanschauung und das Verhalten dieser Menschen nicht ändern.“

Ihre Sicht der Welt werde durch Ideologie geprägt, und die Fakten spielten dabei keine Rolle. Menschen, die „demoralisiert“ worden seien, könnten wahre Informationen nicht mehr von falschen unterscheiden, so Bezmenow. „Deshalb ist der Prozess der Demoralisierung komplett und nicht mehr reversibel. Um das umzudrehen, bräuchte man wieder 15 bis 20 Jahre, um neue Generationen von patriotisch gesinnten, von gesundem Menschenverstand geprägten Menschen zu erziehen“, die im Interesse ihres eigenen Landes arbeiten würden und nicht im Interesse der Ideologie.

Die Demoralisierung in Amerika sei erfolgreicher gewesen, als sie sich KGB-Chef Andropow hätte träumen lassen, so der KGB-Überläufer: „Das meiste haben die Amerikaner untereinander angerichtet, weil ihnen moralische Standards fehlen“. Mit anderen Worten: Das kapitalistische System war morscher, als man es sich sogar in Moskau ausmalen konnte.

Gehirnwäsche im TV

Eine wichtige Rolle bei der „Gehirnwäsche“ spielten Film und Fernsehen, so Bezmenow: „Wenn man die letzten 20, 25 Jahre alte und neue Filme miteinander vergleicht, werden in neuen Filmen Polizeibeamte als dumm, aggressiv, psychotisch, paranoid dargestellt. Der Kriminelle hingegen wirkt nett. Er raucht vielleicht Haschisch, spritzt sich Drogen, aber im Grunde wird er als netter, kreativer Mensch gezeigt. Und er ist nur deswegen unproduktiv, weil ihn die Gesellschaft unterdrückt. Wobei ein General des Pentagons definitionsgemäß immer ein dummer, kriegslüsterner Irrer ist. Ein Polizist wird als Schwein vorgeführt, der unverschämt ist und seine Macht missbraucht.“

Es gehe darum, Hass und Misstrauen gegenüber den Leuten zu schüren, die die Bürger beschützen und Recht und Gesetz durchsetzen, so der gelernte Propaganda-Spezialist Bezmenow: Moralischer Relativismus sei ein wichtiges Mittel in der Langzeitstrategie. Die Grenzen zwischen Gut und Böse würden verwischt, man überzeuge die Menschen, überall seien alle gleich, etc. Auch durch Eingriffe in die Sprache werde das umgesetzt. Es gehe um „eine langsame Ersetzung grundlegender moralischer Prinzipien, wodurch ein Krimineller kein Krimineller mehr ist, sondern ein Angeklagter.“

Zu den wichtigsten Zielen der Gehirnwäsche gehöre es, den Menschen die Lüge einzutrichtern, dass alle Menschen gleich seien: „Wir sowjetischen Propagandisten versuchen euch in diese Richtung, in die ihr selbst geht, weiter zu drängen. ‚Gleichheit, ja! Gleichheit! Menschen sind gleich!‘“ Man vertausche deshalb gezielt die Begriffe Chancengleichheit, die gut und notwendig sei, und Gleichheit, die in Wirklichkeit für Gleichmacherei stehe.

Bis in die Familie

Eines der Ziele sei die Destabilisierung bis hinein in die Familie: „Dann können wir nicht einmal mehr innerhalb einer Familie zu einem Kompromiss gelangen. Wir erleben eine Radikalisierung der Beziehung zwischen den Menschen. Keine Kompromisse mehr! Kämpfen, kämpfen, kämpfen! Die normalen, traditionell akzeptierten Beziehungen werden destabilisiert.“

Wenn dann aber die sozialistische Gleichmacherei in der Zukunft die Gesellschaft zerstört habe, werde große Ernüchterung eintreten, so Bezmenow: Es werde Unzufriedene geben, Dissidenten, aber das faktisch  sozialistische Regime werde diese Menschen, also Widerspruch zur herrschenden Ideologie, ganz anders als das aktuelle Amerika (im Jahr 1984) nicht tolerieren.

Besonders zu empfehlen ist das Interview von Bezmenow von 1984 (anzusehen hier), in dem er auf Englisch ausführlich die Langzeitstrategie beschreibt – und vieles, wenn man es aus dem Kontext des Kalten Kriegs heraus löst, sich genau mit dem deckt, was wir heute erleben. Nicht ganz so aussagekräftig, aber auch interessant ist dieser Auftritt von Bezmenow, der mit deutschen Untertiteln unterlegt ist.

‘Krise des Kapitalismus‘

Der Buchautor Thorsten Mann, der sich intensiv mit der sowjetischen Langzeitstrategie auseinander gesetzt hat, schreibt: „Erst in Kenntnis dieser Langzeitstrategie wird verständlich, warum sich das politische Lager der westlichen Staaten in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach links verschoben hat; warum die in den 1990er Jahren begonnene ‘Globalisierung‘ darauf abzielt, die Nationalstaaten aufzulösen und sie der Kontrolle regionaler und globaler Strukturen wie der EU und der UNO zu unterwerfen; wie der internationale ‘Klimaschutz‘ dazu dient, eine globale, redistributive Planwirtschaft auf politischem Weg ‘durch Übereinkunft‘, anstatt auf militärischem Weg ‘durch Eroberung‘ zu errichten; warum nach einer Periode der ‘Entspannung‘ und ‘Partnerschaft‘ zwischen Ost und West der Kalte Krieg wieder begonnen hat und warum ein neues Wettrüsten unvermeidbar ist; warum jederzeit mit einem Zusammenbruch des westlichen Finanzsystems gerechnet werden muss, der die sogenannte ‘Krise des Kapitalismus‘ auslösen und die Rückkehr des Klassenkampfes bewirken könnte; warum die Gefahr eines Dritten Weltkrieges in Mitteleuropa heute größer ist als je zuvor.“

langzeitstrategie

Der „Spiegel“ bringt pünktlich zum 100. Jahrestag der Sowjetunion, quasi als Geburtstagsständchen von den Musterschülern, folgende Titelstory: „Grüner und gerechter: Hatte Marx doch recht? Der klassische Kapitalismus funktioniert nicht mehr. Aber angetrieben von immer neuen Weltkrisen und einem drohenden Klimakollaps zeichnen sich konkrete Reformideen ab: weniger Wachstum, mehr staatliche Zielvorgaben.“ Das klingt wie abgeschrieben aus der Langzeitstrategie. Als Bild ziert die Geschichte ein Porträt von Marx, auf modern und grün getrimmt.

Ich selbst sehe die sowjetische Langzeitstrategie differenziert. Dass es sie gab, steht für mich außer Frage. Ich denke aber nicht, dass heute irgendwo jemand in einem Hinterzimmer sitzt und die Fäden zieht. Die Prozesse haben sich verselbständigt. Der Samen, den Moskau einst säte, ging auf. Und die Auswüchse sind heute überall. Sie haben sich längst verselbständigt; und sie waren in meinen Augen nie monokausaler Auslöser der negativen Entwicklung in unseren Gesellschaften. Hier spielten viele Faktoren zusammen.

Die EU als EUdSSR?

So wenig ich etwa das Weltwirtschaftsforum von Klaus Schwab als ein Produkt der sowjetischen Langzeitstrategie sehe (bei Angela Merkel wäre ich mit so einer Beteuerung schon vorsichtiger) – so sehr passt es zu dieser. Ebenso wie der „Great Reset“, den heute Schwab & Co. anstreben (das ist keine Verschwörungstheorie, sondern in einem Buch von WEF-Chef Schwab nachzulesen). Der Sowjet-Dissident und Intim-Kenner des kommunistischen Systems Wladimir Bukowski kritisierte die EU als bürokratisches Monstrum und nannte sie eine neue Sowjetunion. Als er noch lebte und wir uns austauschten, hielt ich diese Kritik für überzogen. Heute kann ich sie leider in vielen Punkten nachvollziehen.

Die Sowjetunion, die heute vor 100 Jahren gegründet wurde, ist leider alles andere als tot. Ihr Ungeist lebt fort.

Mein Video-Tipp:

„Mischung aus Irrenhaus und Mädchen-Lyzeum“: Erschütternde Innenansichten aus Berliner Parlament:

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