Von Alexander Wallasch
Manchmal empfiehlt es sich, ein paar Schritte zur Seite zu treten und zurückzuschauen: Wie lauteten noch mal die Empfehlungen, Mahnungen und Anordnungen der Regierenden zu Beginn und im weiteren Verlauf der Pandemie, wie sollte sich der Bürger verhalten, welche Einwände und Widersprüche wurden kategorisch abgebügelt und diffamiert?
Tatsächlich ging es zunächst immer darum, sich bloß nicht mit COVID-19 zu infizieren, vollkommen unabhängig davon, ob man nun zur Risikogruppe gehörte oder nicht. Wer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dazu gehörte, der wurde mit der Möglichkeit eines Long-Covid konfrontiert – oder soll man sagen bedroht? –, Langzeitfolgen, welche allerdings noch weniger belegt waren, als eine ganze Reihe mittlerweile aktenkundiger Nebenwirkungen der mRNA-Impfungen.
Was mittlerweile als erwiesen gilt, ist auf eine bestimmte Weise auch tröstlich: Der beste Schutz gegen COVID-19 ist COVID-19. Die Genesenen haben die wirksamste Immunisierung. Ja, wenn da nicht das Long-Covid-Gespenst wäre: So warnte beispielsweise der „Gesundheitsexperte“ der SPD, Karl Lauterbach, immer wieder und gerade wieder vor wenigen Tagen vor den Langzeitfolgen einer Erkrankung bzw. Infektion. Der Sozialdemokrat wurde hier erneut verbal übergriffig gegen Kinder, als er die Notwendigkeit der Impfung für diese Gruppe aufgrund seiner Long-Covid-Behauptung einforderte.
Neben anderen empfiehlt jetzt eine renommierte Wissenschaftlerin aus Österreich, Janine Kimpel von der Medizinischen Universität Innsbruck, welche (noch) nicht verdächtig ist, zu den Corona-Maßnahmen-Kritikerinnen zu gehören, das genaue Gegenteil dessen, was über eineinhalb Jahre zum täglichen Corona-Gebet dazugehörte. Sie empfiehlt Geimpften eine regelmäßige Ansteckung mit dem Erreger.
Hier heißt es jetzt ganz langsam weitererzählen, damit man das Groteske des Ansinnens auch richtig versteht:
Es geht darum, dass sich Genesene trotz eines gegenüber der Impfung sich vielfach als vorteilhafter erwiesenen Immunschutzes dennoch impfen lassen sollen, und andersherum sollen sich Geimpfte doch bitte mit COVID-19 infizieren, um ebenfalls auf diesem Wege eine Art Super-Immunität zu erlangen.
Der Mensch der Zukunft überlebt nur als hybrides Wesen
Die Begründung dafür klingt ein wenig wie aus dem Labor von Doktor Frankenstein, wenn Wissenschaftler der New Yorker Rockefeller University zu Testzwecken ein künstliches Spike-Protein herstellen, welches das Virus braucht, um an menschliche Zellen anzudocken und sie zu befallen. Und wenn sie ihr Protein so richtig gefährlich bestücken, samt Delta- und rund zwanzig weiterer Varianten huckepack. Die Beteiligten betonen, dass ihre Bastelarbeit so angelegt sei, dass sie keine Infektionen auslösen könnte. In der Forschung sei so ein Vorgehen durchaus üblich.
Das Ergebnis kommt dann fast wie bestellt zur, eingangs erwähnten, Zusammenführung von Impfung und Infektion: Einzig die Antikörper einer bestimmten Personengruppe wären gegen das im Labor gebastelte aggressive Spike-Protein angekommen: Die der Menschen nämlich, die von COVID-19 genesen waren und außerdem später einen mRNA-Impfstoff erhalten hatten.
Ist das die Geburtsstunde der Idee einer Super-Immunität? Die dazu passenden Studien sind auch gleich zur Hand, die das alles belegen wollen.
Die Nachrichtenredaktion von web.de befragte die Virologin Janine Kimpel zu der Super-Immunität. Und Kimpel antwortete dem Portal, Studien hätten gezeigt, dass Genesene, welche zusätzlich geimpft wurden, generell sehr hohe Mengen an Antikörpern hätten.
„Außerdem haben sie eine diversere Antwort an neutralisierenden Antikörpern als nur Genesene oder nur Geimpfte.“, so die österreichische Wissenschaftlerin.
Leider fehlen auch hier im Kontext der Erzählung klare Angaben und Bezugsgrößen dazu, wie viele Genesene tatsächlich im Anschluss an ihre überstandene Erkrankung erneut erkranken oder schwer erkranken. Zunächst hat man für Genesene eine Sechsmonatsregel eingeführt: Sechs Monate nach Erkrankung und Gesundung ist der Status des Genesenseins hinfällig, basierend auf der Annahme eines etwa achtmonatigen Schutzes abzüglich eines zweimonatigen Infektionsschutz-Zeitfensters.
Nein, sagte dazu allerdings Sebastian Ulbert, Abteilungsleiter Impfstoffe und Infektionsmodelle am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig. „Diese Sechs-Monats-Regel entbehrt mittlerweile einer wissenschaftlichen Grundlage.“
Für Ulbert gibt es ausreichende Daten, die gezeigt hätten, dass Genesene oft auch ein Jahr nach Infektion noch gut geschützt seien, auch gegen Varianten wie Delta. Auch Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI), spricht sich für eine Ausdehnung des Zeitraumes für Genesene aus.
Ansteckende Gesundheit
Und was in dem Zusammenhang wiederum sinnfrei erscheint, ist, dass das digitale Impfzertifikat für vollständig Geimpfte eine Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten hat und damit doppelt so lange gilt als der Genesenen-Status, und das, obwohl Genesene einen besseren Immunitätsstatus haben als Geimpfte.
In einer öffentlichen Stellungnahme vor wenigen Tagen hat die Gesellschaft für Virologie auch damit aufgeräumt, dass es womöglich keine ausreichende Immunität bei Genesenen gäbe: Eine SARS-CoV-2-Infektion führe beim Menschen, heißt es da, „zur Ausbildung immunologischer Gedächtniszellen“. Und diese seien wiederum der „eigentliche Schutzmechanismus des Immunsystems gegen eine erneute Erkrankung“.
Die Beteiligten an dieser Kampagne einer hybriden Super-Immunität ahnen wohl mutmaßlich selbst, dass ihr Konstrukt zum Teil auf ziemlich tönernen Füßen stehen könnte. Jedenfalls warnen sie die ungeimpften Bürger, sich absichtlich der Infektion auszusetzen: Sich als Ungeimpfter absichtlich anzustecken, sei gefährlich und nicht ratsam, so die Virologin Kimpel gegenüber dem Nachrichtenportal.
Das sei auch deshalb gefährlich, weil Long-Covid drohe. Demnach gilt dieses Long-Covid-Risiko also nicht für Geimpfte? Da soll nämlich „jeder“ auf Anraten der Virologin aus Innsbruck in regelmäßigen Abständen durch einen natürlichen Kontakt mit dem Virus aufgefrischt werden. „Dadurch sollte es zu einer langanhaltenderen Immunität auch auf der Schleimhaut kommen.“ Die reine Impfung würde ja nur „in den Muskel“ gehen.
Janine Kimpel hat 2006 mitgearbeitet an einem Projekt mit dem Titel “Analyse der Wirksamkeit einer Gentherapie der HIV-Infektion im humanisierten Mausmodell”.
2019 veröffentlichte Kimpel in der Zeitschrift Trillium unter der Überschrift: „Design und Funktionsweise von Vektor-basierten Impfstoffen“. Im dortigen „Fazit“ spricht sich Kimpel für „eine enge Kooperation zwischen öffentlichen Forschungseinrichtungen und privatem Sektor“ aus.
„Neuartige Impfkonzepte von der präklinischen Forschung in die klinische Erprobung zu bringen“, sei sehr kostspielig. Diese Kosten könnten eine zügige klinische Entwicklung vielversprechender Vektor-Technologien erschweren, so Kimpel weiter.
Das eingangs zitierte Nachrichtenportal hatte also keine Unbekannte als Expertin befragt und die Idee einer Super-Immunität, die Idee eines hybriden Menschen geliefert bekommen. Oder wie es Will Smith im dystopischen Hollywood-Klassiker „I Am Legend“ formulierte:
Ich heiße Robert Neville. Ich habe in New York City überlebt. Falls es irgendwo noch jemanden gibt … irgendjemanden. Bitte. Du bist nicht allein.
PS: Nur Personen erwünscht, die auch über die neue Super-Immunität verfügen, sonst bitte noch ein bisschen mit den Zombies da draußen spielen.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine.
Alexander Wallasch ist gebürtiger Braunschweiger und betreibt den Blog alexander-wallasch.de. Er schrieb schon früh und regelmäßig Kolumnen für Szene-Magazine. Wallasch war 14 Jahre als Texter für eine Agentur für Automotive tätig – zuletzt u. a. als Cheftexter für ein Volkswagen-Magazin. Über „Deutscher Sohn“, den Afghanistan-Heimkehrerroman von Alexander Wallasch (mit Ingo Niermann), schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Das Ergebnis ist eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman, unterwegs im deutschen Verdrängten.“ Seit August ist Wallasch Mitglied im „Team Reitschuster“.
Bild: JPstock/ShutterstockText: wal