Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Über die Feiertage möchte ich Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà – eine Geschichte von 2008, die uns auch den Spiegel vorhält – denn inzwischen haben sich in Deutschland die Sitten massiv gerändert, und ein munteres Drauflos-Duzen ist hierzulande Standard geworden – anders als in Russland ist es freilich nicht hierarchisch:
Stellen Sie sich vor: Angela Merkel tritt vor ihr Kabinett und nimmt ihren Finanzminister in die Mangel. „Hey, Du, Steinbrück, steh auf und komm her!“ Undenkbar. In Deutschland zumindest. In Russland darf ein Regierungschef ein Mitglied seines Kabinetts schon mal spontan duzen – vor allem, wenn er ihm eine Abreibung erteilen will. So geschehen im Oktober 2007 zwischen dem damaligen Premier Viktor Subkow und dem Chef der Antimonopolbehörde, der nie mit ihm Schweine gehütet hatte.
So wie dem Behördenchef im Ministerrang ergeht es Millionen Russen – und vielen Ausländern. Ein vertrautes „Du“ ist in Russland allgegenwärtig – auch da, wo man es sich nicht unbedingt wünscht. Etwa, wenn einen ein Verkehrspolizist anhält: „Zeig mir mal Deinen Führerschein!“ Oder wenn in der Metro der Nachbar an einem vorbei will: „Lass´ mich mal durch.“
Vorsicht vor eiligem Zurück-Duzen!
Ausländer sollten sich vor allzu schnellen Rückschlüssen hüten – und vor allem vor voreiligem Zurück-Duzen. Denn während etwa in Schweden jeder jeden vertraulich mit „Du“ anreden darf, ist in Russland Vorsicht angesagt bei der Wahl der Anrede. So schnell man selbst von einem Gegenüber geduzt wird – es ist nicht unbedingt statthaft, mit gleicher Münze zurückzuzahlen und zurückzuduzen. So hat man etwa in Russland seine Schwiegereltern höflich mit „Sie“ anzureden – während die selbst selbstverständlich zurückduzen. Hochrangige Beamten können Journalisten schon mal vertraut mit „Du“ anreden – wären aber in ihrer Ehre verletzt, würde man es wagen, sie nicht weiter mit „Sie“ anzusprechen.
Die Regeln, wer wen mit Du und mit Sie anredet, sind in Russland so kompliziert, dass fast jeder seine eigene Gewohnheiten pflegt. Das ergab zumindest eine Umfrage der Zeitschrift „Wlast“ unter Prominenten. Der liberale Politiker Boris Nadeschdin etwa duzt prinzipiell alle männlichen Untergebenen – die natürlich zurücksiezen müssen; Vertreter des schwachen Geschlechts siezt der Demokrat hingegen. Der Producer Iosif Prigoschin duzt nur Untergebene, die jünger sind als er – während er ältere, unabhängig vom Rang, prinzipiell siezt. „Dauer-Siezer“ wie die Sängerin Sweta Swetikowa sind in der Minderheit gegenüber „Dauer-Duzern“ wie Sergej Penkin, der ohne Rücksicht auf Verluste und Situation jedermann in der zweiten Person Einzahl anreden.
Sprachwissenschaftler erklären die fast schon babylonische Sprachverwirrung mit der schwierigen Geschichte des „Sie“ in Russland. Bis ins 18. Jahrhundert wurden selbst die Zaren von jedermann geduzt, Briefe an den Alleinherrscher endeten regelmäßig mit der Schlusszeile „Dein Sklave“. Peter der Große, der Russland auf europäischen Kurs bringen wollte, führte dann nach dem Beispiel Deutschlands und Frankreich als Höflichkeitsform die Anrede in der zweiten Person Mehrzahl ein – und fortan war es um die Einheitlichkeit geschehen. In Briefen aus jener Zeit wechseln die Autoren munter zwischen „Du“ und „Sie“ hinterher. Und erst allmählich setzte sich in der feineren Gesellschaft auch das „Sie“ durch – bis hin zur Schlusszeile „Ihr Sklave“ in Briefen an den Zaren.
Pluralis Majestaetis
So stark, dass in den höheren Ständen Kinder ihre Eltern siezten. Noch heute redet man in einigen Familien entfernte, ältere Verwandte mit „Sie“ an. Die Moskauer Journalistin Lilija Palweljewa erinnert sich, wie sie einem kleinen Jungen auf die Frage, wo seine Mama sei, antwortete: „Sie ist gegangen“. Worauf der Junge ihr beleidigt entgegnete: „Meine Mama ist viel älter als Sie. Sie müssen sagen – ,sie sind gegangen´“ – die familiäre Form des Pluralis Majestaetis, der Anrede des Herrschers in der Mehrzahl.
Ob man jemanden siezte oder duzte, war in den Städten bis zur Revolution in erster Linie eine Frage des Ranges und des Alters. So war denn auch bei Streiks 1912 eine der Forderungen der Arbeiter, dass sie künftig vom Chef nicht mehr geduzt, sondern gesiezt werden. Abseits der großen Städte kannte die Bevölkerung solche Sorgen aber nicht – die Mehrheit der Russen in den Dörfern blieb bis 1917 beim Du. Als der Dichter Afanassij Fet 1867 Friedensrichter wurde, versuchte er neue Wege einzuschreiten und die Bauern zu siezen – doch die duzten unbeschwert zurück.
Nach der bürgerlichen Februarrevolution 1917 ordnete der Petersburger Sowjet in seiner ersten Verfügung an, dass in der Armee künftig niemand mehr geduzt wird. Geholfen hat es nicht. Denn mit dem Putsch der Kommunisten geriet auch das Siezen wieder aus der Mode; wer siezte, machte sich verdächtig, im besten Fall ein feiner Pinkel, im schlimmsten ein Anhänger des bourgeoisen Regimes und Revanchist zu sein. Der enorme Zuzug von hartnäckig duzenden Dorfbewohnern in die Städte tat ein Übriges. Erst Ende der 20er Jahre kam das „Sie“ wieder in Mode – konnte sich aber nie richtig durchsetzen. In der Partei duzte man von oben nach unten, wogegen von unten nach oben gesiezt wurde. In der Armee werden die einfachen Soldaten bis heute geduzt.
In der Perestroika geriet dann alles endgültig durcheinander. Westliche Unsitten wie das Anreden mit „Sie“ und Vornamen machen seitdem der altbewährten russischen Anrede mit Namen und Vatersnamen Konkurrenz. Einige Firmen, vor allem im Bankensektor, sind ganz zum Duzen übergegangen – was wiederum in Behörden undenkbar wäre. Manche Ausländer verheddern sich in den Sticknetzen der Sprach-Etikette. So ließ sich ein deutscher Kollege von seinem Fahrer, der deutlich älter war als er, duzen – und siezte höflich zurück. Nach einiger Zeit wunderte er sich dann, dass der Fahrer anfing, sich immer mehr selbst als Chef zu fühlen – und versuchte, selbst den Ton anzugeben in der Firma.
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