„Kein Gast, sondern ein Eindringling!“

«Unsere Geduld ist geplatzt. Wir müssen Ordnung schaffen“ – reagierte eine Bürgermeisterin in Russland auf die Vergewaltigung einer jungen Einheimischen durch einen Migranten, die zu massiven Protesten und Übergriffen geführt hat. Russische Medien berichten ausführlich über die Tat und ihre Folgen.

 

 

Im ostsibirischen Jakutsk gab es im März zwei Tage lang Demonstrationen und Übergriffe auf Ausländer, nachdem ein Migrant aus Kirgisien eine einheimische Frau vergewaltigt hat. Der Gouverneur und die Bürgermeisterin traten kurz nach der Tat vor 6000 Bürger, die sich im Zentrum versammelt hatten. Sie versprachen, die Probleme mit der illegalen Migration zu bekämpfen und «Prophylaxe bei den nationalen Gruppen» (gemeint sind die jeweiligen Nationalitäten der Einwanderer) zu betreiben, wie das Nachrichtenportal Newsru.com berichtet. Das Oberhaupt der Teilrepublik, Aysen Nikolajew, warnte vor Lynchjustiz und illegalen Handlungen, und versprach gleichzeitig, die Schuldigen würden «nach aller Strenge des Gesetzes» bestraft werden. Einer

 

der Abgeordneten, die vor die Menschen traten, der Box-Champion Pawal Pinigin, wurden ausgebuht, offenbar, weil er mit einer Kirgisin verheiratet ist. Die Bürgermeisterin von Jakutsk, Sardana Aksentjewa, sagte: «Wir Jakuten haben lange Geduld gehabt, aber jetzt ist unsere Geduld geplatzt. Wir müssen Ordnung schaffen. Das hier ist unsere Heimat, unsere Stadt, wir sind hier die Hausherren, und das müssen wir auch deutlich machen». Später betonte die Stadtvorsteherin im Gespräch mit der britischen BBC, sie habe mit „Hausherren“ nicht die Jakuten, sondern alle Bewohner der Republik gemeint. Dass sie Stimmung so angespannt sei, liege nicht an Fremdenfeindlichkeit, sondern an der Armut– in dem sehr rohstoffreichen Jakutien, wo Gold und Diamanten abgebaut werden, leben 20 Prozent der Menschen laut Bürgermeisterin unterhalb der Armutsgrenze. In keiner anderen Region gebe es so viele baufällige Häuser. Immer lebten Menschen in Tausenden alten Holz-Barracken, die meisten ohne Wasser und Kanalisation: „Die Abwässer werden auf die Straße geschüttet“.

 

Im Internet verbreiteten sich Videos von Übergriffen auf ausländische Verkäufer und Busfahrer, ebenso Warnungen vor Lynchjustiz bei weiteren Übergriffen. Es war von Pogromen die Rede und sogar von der Ermordung eines Migranten, was die Behörden laut dem Nachrichtenportal „Taigapost“ dementierten. Ebenso dementiert wurden demzufolge Berichte, wonach Sondereinsatztruppen der Polizei nach Jakutsk eingeflogen wurden. Die kirgisische Diaspora bat um Verzeihung für die Tat und betonte, die Schuldigen müssten nach dem Gesetz bestraft werden. In den russischen Medien wurde breit über die Ereignisse berichtet, bei einigen waren sie Hauptmeldung. Die Übergriffe von Einheimischen gegen Ausländer wurden dabei nur am Rande erwähnt.

 

Die Ermittlungsbehörden hatten nach der Vergewaltigung zunächst die Nationalität des mutmaßlichen Täters und seiner Komplizen verschwiegen, was zu massivem Unmut in der Stadt führte, wie das Nachrichtenportal meduza berichtet. Der 23-Jährige Tatverdächtige soll um 4 Uhr in der Nacht auf den 17. März eine 23-jährige Einheimische in sein Auto gezerrt und dort vergewaltigt haben. Anschließend brachte er sie ihrer Schilderung zufolge im Auto in die Autowerkstatt seiner Bekannten und fuhr nach Hause. Die Frau wartete in der Werkstatt, bis ihre beiden Bewacher einschliefen, und floh zur Polizei. Alle drei Tatverdächtigen wurden laut meduza festgenommen. Der mutmaßliche Haupttäter gestand die Tat und soll nun wegen Vergewaltigung und Entführung angeklagt werden, die beiden mutmaßlichen Komplizen wegen Freiheitsberaubung. Der Hauptverdächtige hatte bereits 13 Ordnungswidrigkeiten auf dem Kerbholz und hätte laut Gesetz bereits nach zweien des Landes verwiesen werden müssen.

 

Schon am Abend nach der Vergewaltigung kam es zuersten Protesten, so das regionale Nachrichtenportal „SakhaNews“: „Die Berichte über die Tat hatten eine explosive Wirkung“. Über Whatsapp wurde ein Aufruf verbreitet, um 20 Uhr zu einer Protestkundgebung auf den zentralen „Komsomol-Platz“ in Jakutsk zu kommen und dort „die Geschlossenheit des Volkes von Sacha“ zu demonstrieren. Sacha (bzw. in der englischen Transkription „Sakha“) ist die Eigenbezeichnung der Jakuten und die offizielle Bezeichnung ihrer Republik, die ein russisches Bundesland ist. „Es kamen wirklich viele Menschen auf den Platz, aber der Polizei gelang es offensichtlich, die Situation schnell unter Kontrolle zu bringen“, so „SakhaNews“. Die Nachrichtenseite 360tv.ru schrieb von „Volkszorn“ auf dem Platz und von „Forderungen, die Migrationsgesetze zu verschärfen“. Die Seite zitiert eine Teilnehmerin mit folgenden Worten: „Das hat nichts mit Nationalität zu tun. Wir wehren uns dagegen, dass unsere Frauen beleidigt werden, unabhängig davon, welcher Nationalität die Täter sind.“ 360tv.ru sprach von 200 Protestierenden; ein Mann, der extremistische Parolen geschrien habe, sei dabei festgenommen worden.

 

Der Leiter der Regierungs-Administration Oleg Lebed versprach den Protestierenden, dass die Schuldigen bestraft würden und schlug laut 360tv.ru einen Bürgerdialog vor, der wie geschildert dann auch tatsächlich schnell stattfand. Gleichzeitig wurde die örtliche Moschee unter Polizeischutz genommen. Die Tat hatte deutliche Auswirkungen auf den Alltag in der Stadt: Am 19. März blieben in Jakutsk viele Gemüsekioske geschlossen und Dutzende von Bussen stehen, weil Verkäufer und Fahrer – Migranten – nicht zur Arbeit kamen. Das Internet-Portal SakhaDay vermutete, dass dahinter nicht nur die Angst der Betroffenen vor der Wut der Jakuten stecken könnte, sondern auch die Befürchtung, dass die Busfahrer ebenso wie die Kioskbetreiber bzw. deren Papiere von den Behörden kontrolliert würden. Nach offiziellen Angaben blieben nur 80 bis 90 von insgesamt 420 bis 430 Bussen stehen. Am Morgen seien zunächst noch mehr Fahrer Zuhause geblieben, so der Leiter des lokalen Busbetriebs, Andrei Kosizkij, aber man habe sie „überzeugen können“. Kosizkij weiter: „In der Tat gab es gestern Vorfälle, es kam zu Konfliktsituationen in den Bussen: Fahrgäste weigerten sich, für die Fahrt zu bezahlen, es kam zu Beleidigungen der Fahrer. Heute gibt es aber keine solchen Fälle mehr.“ Dennoch sei die Betriebsleitung besorgt über die „unzureichende Sicherheit der Busfahrer, die ungeschützt sind“. Solange „die Situation nicht außer Kontrolle gerät, wird der Busbetrieb im alten Umfang fortgesetzt“, so Kosizkij.

 

Der Vorsitzende der kirgisischen Diaspora Danijar Baygutujew entschuldigte sich bei dem Opfer und seiner Familie, schrieb das Portal „SakhaDay“: „Wir bitten um Verzeihung und haben sehr großes Mitgefühl mit dem Opfer. Wir alle haben Frauen und Kinder, auch sie hätten an der Stelle des Opfers sein können. Wir haben ein Interesse daran, dass der Täter bestraft wird. Und wir werden Täter niemals rechtfertigen.“ Laut Baygutujew baten Vertreter der Diaspora ihre Landsleute, sich vorsichtig zu verhalten, niemanden zu provozieren und wenn möglich ihre Arbeit als

 

 

Taxifahrer zunächst einzustellen.“Der Diaspora-Vorsitzende Baygutujew klagte laut „SakhaDay“ auch über Aggressionen im Internet: „Da gibt es Leute, die Öl ins Feuer gießen, die die Situation ausnützen und versuchen, sie weiter anzustacheln. Da werden etwa Videos bezeigt, wo Leute Kioske durchsuchen (die von Ausländern betrieben werden, Anm.d. Red.). Worin besteht die Schuld von gewöhnlichen Kiosk-Verkäufern? Wegen einem Verbrecher drohen unschuldige Menschen zu Opfern zu werden, einfache Arbeiter, wie wir alle.“ Laut Baygutujew lebten in Jakutien mit seiner knapp einen Million Einwohnern vor der Wirtschaftskrise (infolge der Annexion der Krim, Anm. d. Red.) rund 20.000 Kirgisen und Usbeken, und heute noch rund 7.000. Nur weil die meisten im Dienstleistungsbereich tätig und damit in der Öffentlichkeit sichtbar seien, entstünde der Eindruck, es seien mehr, so Baygutujew laut 360tv.ru.„

 

Der Vorfall hat die Bevölkerung erschüttert“, hieß es in einer Presseerklärung der Kreml-Partei „Einiges Russland“: „Es ist wichtig, dass niemand versucht, die Situation zu nutzen und die Emotionen der Menschen zu instrumentalisieren. Jetzt gilt es, den gesunden Menschenverstand zu bewahren“. Nach der Kundgebung befahl die Bürgermeisterin von Jakutsk, Transport-, Handels- und Verpflegungsfirmen auf die Einhaltung der Arbeits-, Steuer- und Einwanderungsgesetze hin zu überprüfen. Zudem wurden Wohnungen, in denen Migranten wohnen, durchsucht. Das Stadtoberhaupt beauftrage Andrei Kosizkij, den oben erwähnten Leiter des örtlichen Bus-Betriebes, die Arbeitserlaubnisse von dort beschäftigten Migranten zu prüfen. Die Anzahl der Busfahrer aus dem Ausland beträgt nach Angaben Kosizkijs in Jakutsk etwa 65 Prozent.„Jakutien ist eine multinationale Republik, hier leben mehr als 120 Nationalitäten“, schrieb das Oberhaupt der Teilrepublik, Aysen Nikolajew, auf instagram: „Wir können nicht zulassen, dass ein einziges Verbrechen zu ethnischer Zwietracht führt. Wir sind nicht gegen Vertreter einer einzelnen Nationalität, wir sind gegen illegale Migration, gegen Kriminalität, gleich welcher Nationalität.“ Weiter erklärte Nikolajew: „Der Norden war schon immer für seine Gastfreundschaft bekannt, aber der Gast, der gegen die Gesetze und Traditionen der Einheimischen verstößt, ist kein Gast, sondern ein Eindringling, der zurückgewiesen werden muss.“

 

Weiter versprach Nikolajew, „die Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Migration bis hin zur Abschiebung von Migranten zu verstärken. Alle von Migranten begangenen Straftaten unterliegen der besonderen Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden. Besonders im Fokus stehen die Führer derLandsmannschaften“: Er habe dem Innenminister, dem Geheimdienst, dem Generalstaatsanwalt und der Bürgermeisterin von Jakutsk eine Reihe einschlägiger Anweisungen übergeben, so das Republik-Oberhaupt. Gleichzeitig betonte er, dass die illegale Migration vor allem auf die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückzuführen sei und die Einheimischen damit selbst eine Verantwortung dafür trügen: „Wir müssen bei uns selbst anfangen. Aber dabei ausschließlich nach dem Gesetz handeln.“Laut der kremlkritischen Moskauer Zeitung „Nowaja gaseta“ war die Situation in Jakutsk „wirklich angespannt, aber nicht so kritisch, wie das die Medien verbreiteten“.

 

Die „Nowaja gaseta“ kritisiert, dass es sehr viele Fakenews über angebliche Progrome gegen Ausländer gegeben habe. Erst nach der Tat vom März wurde bekannt, dass bereits im Vorjahr ein Gastarbeiter aus Tadschikistan eine 14-Jährige vergewaltigt und dabei geschwängert hatte. Ob er mit dem Bericht darüber nicht Öl

 

ins Feuer gegossen habe, fragt die „Nowaja gaseta“ den Vize-Chefredakteur der Lokalzeitung „Jakutsk Vetschernij“ Vitalij Obedin. Man habe auf das Problem aufmerksam machen wollen, rechtfertigte sich der. Und verwies auf die Statistik: Die Zahl der Vergewaltigungen hat sich in Jakutien 2018 gegenüber dem Vorjahr um 332 Prozent erhöht; auch die Zahl der Vergewaltigung von Kindern hat sich demnach verdreifacht.

 

Auf die Frage, ob sich das Oberhaupt der Teilrepublik und die Bürgermeisterin nicht billige Popularität und Stimmen bei den nächsten Wahlen erkauft hätten mit ihrem Verhalten nach der Tat, antwortete Obedin: „Möglicherweise“.Wie oft bei schlagzeilenträchtigen Ereignissen in Russland wurden laut dem Nachrichtenportal „Taigapost“ auch in Jakutsk Verschwörungstheorien laut – weil die Vergewaltigung ausgerechnet auf der Sewastopol-Straße stattgefunden hat und am Vorabend des 5. Jahrestags der „Heimkehr“ der Halbinsel, wie die Annexion im offiziellen russischen Sprachgebrauch genannt wird. Auch würden die Ereignisse nach der Tat so wirken, als seien sie von jemandem geplant gewesen, schreibt die „Taigapost“. Die Behörden hätten allerdings keine Hinweise darauf gefunden, dass irgend etwas koordiniert worden sei.

 

Kreml-Kritiker warnen seit langen, dass die große Zahl von Arbeitsmigranten vor allem aus den muslimischen früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien in Russland zu Spannungen führen könnte. Eine im April erlassene Amnestie für Verstöße gegen das Ausländerrecht für Kirgisen etwa sorgte für Unmut im Lande. Neben der Migration aus dem „nahen Ausland“, wie die Republiken der früheren UdSSR heute in Russland genannt werden, gibt es zudem Probleme mit der Binnenmigration innerhalb Russlands. So werden viele Menschen etwa aus dem Kaukasus oder anderen Regionen, insbesondere den muslimisch geprägten, von vielen Russen als „Ausländer“ wahrgenommen, obwohl sie russische Staatsbürger sind. Während diese über Diskriminierung klagen, kontern viele Russen diese Vorwürfe mit dem Hinweis, viele der Binnenmigranten würden sich herausfordernd und aggressiv verhalten. Als Vielvölkerstaat steht Russland nach Ansicht vieler Experten weiter vor massiven Problemen und Zerreißproben. So ist etwa an bestimmten muslimischen Feiertagen der Verkehr in der Hauptstadt Moskau massiv eingeschränkt.

 

 

Jakutien ist die größte Teilrepublik Russlands und 8,6 Mal so groß wie die Bundesrepublik, hat aber nur knapp eine Million Einwohner. In der Hauptstadt Jakutsk leben 269.600 Einwohner, und damit vergleichbar mit Mönchengladbach oder Wiesbaden. Sie liegt auf einem Längengrad mit Nordkorea und Zental-Australien und Breitengraden die mit Alaska vergleichbar sind. Die Entfernung zur Hauptstadt Moskau beträgt ca. 4800 Kilometer, die Flugzeit rund sieben Stunden; der Zeitunterschied zu Moskau beträgt sechs Stunden. 48,7 Prozent der Einwohner sind Jakuten, 37,9 Prozent Russen.

 

 

 

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