Ein Gastbeitrag von Hans-Hasso Stamer
Dies ist nicht die Realität. Ich erzähle ein Märchen.
Es waren einmal zwei Forschungsinstitute, Insti. 1 und Insti. 2. In einer Studie sollte ein Sachverhalt untersucht werden, der regelmäßig untersucht wurde. Sämtliche Forscher vorher hatten herausgefunden, dass die Welt flach sei. Natürlich war sie flach und rund, das sah doch jeder, der zum Horizont blickte. Damit man am Rand nicht herunterfiel, wurde auf Anweisung des „Ministeriums für Freiheit“ ein langer Zaun gebaut, der um die ganze flache Welt herumreichte. Dafür wurde eine extra Steuer erhoben, die der Regierung regelmäßig unzählige Milliarden in die stets klammen Kassen spülte. Die Forschungsstudie sollte klären, in welchem Zustand das „Geländer der Freiheit“ war. Üblicherweise wurde es jedes Jahr aufwändig erneuert.
So jedenfalls die offiziellen Angaben. Mit eigenen Augen sehen durften das aber nur die Wissenschaftler in den beiden Instituten. Auch ergab sich die Frage: Wieso ein Zaun? Denn wenn sowieso niemand da hindurfte, konnte ja auch niemand vom Rand herunterfallen. Aber eine Antwort darauf bekam man nicht. In der Scheibenwelt durfte man bestimmte Fragen nicht stellen, jedenfalls nicht laut. Manche brauchte man aber auch nicht zu stellen, zum Beispiel die Frage, wer die Institute finanzierte. Es war ein offenes Geheimnis, dass das Budget vom Ministerium für Freiheit zugeteilt wurde. Wie überall, gab es auch hier Unterschiede zwischen der offiziellen Sicht der Dinge und der Wirklichkeit. Offiziell waren die Institute unabhängig.
In den Zeitungen wurde in bunten Bildern verbreitet, wie es am Rand der Welt aussah, denn man kam dort als normaler Bürger nicht hin. Aber es war nachvollziehbar, welch große volkswirtschaftliche Anstrengung unternommen werden musste, um diesen Rand instand zu halten. Hinz und Kunz, zwei junge Forscher am Insti.1, hatten ein populärwissenschaftliches Buch darüber veröffentlicht: „Unsere schöne Scheibenwelt – wie sie am Rand zusammenhält.“ Es war kein Bestseller, hielt sich aber wacker in den Charts auf dreistelligen Plätzen.
Hinz und Kunz wurden nun in Übereinstimmung mit den Forschungskonzepten von der Institutsleitung beauftragt, den Zustand des Zauns zu überprüfen, was jährlich in Form einer wissenschaftlichen Untersuchung geschah. Zu ihrer Überraschung stellten sie allerdings fest, dass die Erde kugelrund und kein Begrenzungszaun zu finden war. Hier machten sie einen entscheidenden Fehler, der noch große Auswirkungen haben sollte: Sie verschwendeten keinen Gedanken darauf, weshalb die anderen Forscher in den Jahren davor doch wohl zu anderen Ergebnissen gekommen waren.
Stattdessen verfassten sie ein Manuskript in Form einer Studie über die Ergebnisse der eigenen Untersuchungen und berichteten darüber vorab auf dem Kurznachrichtendienst „Y“. Es gab einiges Aufsehen, einige meinten, sie hätten schon immer so etwas geahnt, andere stellten die Ergebnisse entrüstet als rechte Verschwörungstheorie in Zweifel. Die Aufregung ließ aber schnell nach, die Aufmerksamkeit der Nutzer wandte sich anderen Themen zu. Offiziell passierte zunächst nichts, auch die Institutsleitung reagierte zunächst nicht auf den internen Bericht. Die Studie wollten die Forscher im renommierten Fachjournal „Journal of Diskworld“ (Jworld) veröffentlichen.
Die beiden reichten ihre Studie ein – allerdings wurde sie nicht angenommen. Die Ergebnisse seien zu ungewöhnlich und müssten erst bestätigt werden. Nun schickten Hinz und Kunz ihr Manuskript an befreundete Kollegen in Insti. 2 zwecks Peer Review, die sich sofort der Sache annahmen und eine kugelförmige Erde ohne Zaun durch spontan-eigenen Augenschein der fraglichen Gebiete bestätigen konnten. Allerdings waren sie nicht bereit, ihre Ergebnisse vor einer eventuellen Veröffentlichung als Preprint durch Jworld zu autorisieren. Im vertraulichen Gespräch meinten sie, sie wollten nicht ihre Karrieren riskieren.
Plagiatsvorwürfe wie aus heiterem Himmel
Die Ergebnisse des Peer Review aus Insti. 2 wurden deshalb Jworld nur telefonisch auf informeller Basis mitgeteilt. Trotzdem wurde einer Veröffentlichung weiterhin nicht zugestimmt. Nun hieß es, es gäbe Kapazitätsschwierigkeiten. Man solle noch Geduld haben (Hinweis des Märchenerzählers: Das ist alles nur gesponnen).
Da erschien überraschend in einer der wichtigsten Zeitungen der Scheibenwelt (SZ: „Scheibenzeitung“) ein Artikel über die Forscher Hinz und Kunz. Er berichtete über ihre verantwortungsvolle Arbeit, erwähnte aber die noch nicht veröffentlichte Studie mit keinem Wort. Dafür wurde, wie aus heiterem Himmel, der Vorwurf eines Plagiats erhoben. Auf Seite 315 von „Unsere schöne Scheibenwelt“ sei nicht korrekt zitiert worden. Solchen Forschern könne man doch keine wichtigen Projekte von globaler Relevanz mehr anvertrauen. In den nächsten Tagen erschienen in anderen Zeitungen noch weitere Artikel mit gleichem Tenor. Hinz und Kunz galten von nun an als „umstritten“.
Die Sache zog sich eine Weile hin – und Kreise. Andere Forscher redeten längst unter der Hand über das sensationelle Kugelergebnis, das völlig im Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung stand. Offiziell redete keiner über die Sache. Es sprach sich aber, wie man so sagt, herum. So war zu vermuten, dass letztendlich auch das Ministerium für Freiheit Wind davon bekommen hatte.
Jetzt ging es auf einmal ganz schnell: Jworld sagte endgültig die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse über die Kugelerde ab. Bereits fest vereinbarte Vorträge im Lande über das „Geländer“ und seine regelmäßige Erneuerung wurden storniert, ebenso wie Talkshowauftritte in der Mattscheibenwelt. Die Institutsleitung tauchte aus der Versenkung auf und bestellte Hinz und Kunz ein. Man teilte ihnen mit, dass aufgrund der Verfehlungen in dem Buch eine weitere Verlängerung ihrer Zweijahresverträge ausgeschlossen sei. Von dem Projekt „Geländer“ würden sie mit sofortiger Wirkung abgezogen.
Weitere Erklärungen dazu gab es nicht. Auf den Einwand von Kunz, dass das Buch doch schon älter sei und warum man die Verfehlung denn nicht schon früher beanstandet habe, erhielten sie nur die Auskunft, dass man erst kürzlich aus der Zeitung von den Vorwürfen erfahren habe. Man sei entsetzt gewesen. Es sei zwar nichts bewiesen, aber das höherwertige Gut sei in diesem Fall der Ruf des Instituts, den man vorrangig und unabhängig von individuell schuldhaftem Verhalten unter allen Umständen schützen müsse.
Verbannt und unwiderruflich zu ‚Querdenkern‘ geworden
Von dem sensationellen Forschungsergebnis war in dem Gespräch gar nicht die Rede. Immerhin kletterte das Buch „Schöne neue Scheibenwelt“ um ungefähr 400 Plätze in den Charts nach oben: auf Platz 261. Von den Tantiemen würden die beiden wenigstens ein paar Monate leben können.
Schließlich veröffentlichten die Forscher ihre Ergebnisse in einem alternativen Journal, wohl wissend, dass sie damit endgültig „verbrannt“ waren. Sie waren jetzt nicht mehr umstritten, sondern unwiderruflich zu „Querdenkern“ geworden, die die evidenzbasierte Wissenschaft der Scheibenwelt negierten.
Fortan galt die Kugelerde als rechtsextreme Verschwörungstheorie. Die Leute zahlten weiter Steuern für das „Geländer“, wie sie etwas despektierlich sagten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann zahlen sie noch heute.
Zurück zur Wirklichkeit
So etwas passiert normalerweise nur im Märchen. Aber normal ist in Deutschland 2023 nichts mehr. Ulrike Guérot ist es passiert, nicht genau so, aber so ähnlich. Eine anerkannte Wissenschaftlerin, leidenschaftliche EU-Befürworterin, kompetenter Talkshowgast im ÖRR. Sie verlor im Frühjahr 2023 ihre Professur als Politologin an der Uni Bonn, offiziell wegen sechs Jahre alten Plagiatsvorwürfen außerhalb ihrer wissenschaftlichen Arbeit („Zitate nicht ausgewiesen“), in Wirklichkeit wegen ihrer Kritik an den Corona-Maßnahmen. Da spielten dann plötzlich ihre Verdienste als Wissenschaftlerin und Gründerin des „European Democracy Lab“ keine Rolle mehr.
Wissenschaftler und Forscher leben heutzutage gefährlich. Am gefährlichsten leben sie, wenn sie zu einflussreichen Entscheidungsträgern und mächtigen Narrativen querliegen.
In dem Interview spricht Ulrike Guérot von einem „Phänomen, das nur noch meinen Namen trägt“. Das wollte ich auch mit dem Märchen sagen: Es geht nicht um den speziellen Fall Guérot, sondern um den Mechanismus dahinter, um gesellschaftliche Zustände, Missstände, Freiheiten und Abhängigkeiten, Wahrheit und Lüge. Denn wie in der DDR gibt es wieder zwei Ebenen: die sichtbare und die eigentliche, die offizielle und die wahre. Beide Ebenen sind immer seltener identisch. 1989 hatte ich nur kurz die naive Hoffnung, aus der Welt der Lüge in die Welt der Wahrheit zu kommen.
„Querdenker“ ist eigentlich immer noch eine Auszeichnung – trotz aller Hetze, die heutzutage mit dem Begriff betrieben wird. Und Märchen haben immer ein gutes Ende – von Ulrike Guérot wird man sicher noch hören.
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Mein Dechiffrier-Video über die Methoden von Markus Lanz hat das ZDF dreimal auf Youtube sperren lassen. Der Schuss ging nach hinten los. Ich habe es im freien Internet auf Rumble hochgeladen. Da wurde es sage und schreibe 6,5 Millionen Mal aufgerufen. Offenbar, weil die Algorithmen „kritische“ Inhalte nicht ausbremsen wie bei Youtube. Ein Leser rechnete aus, dass damit mehr Zuschauer meine kritische Analyse der Sendung gesehen haben als die Sendung selbst. Auch mein Dechiffriert-Video zu dem Hetzstück des ZDF über Hans-Georg Maaßen wurde auf Rumble 6,2 Millionen Mal geklickt. Das macht Mut! Aber es kostet auch sehr viel Zeit und Energie – im konkreten Fall eine Nachtschicht. Umso dankbarer bin ich für Ihre Unterstützung. Ohne die wäre meine Arbeit nicht möglich, weil ich weder Zwangsgebühren noch Steuermillionen bekomme, und auch keinen Milliardär als Sponsor habe. Dafür bin ich unabhängig!
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Hans-Hasso Stamer ist Diplomingenieur, Blogger und Musiker (und war als solcher in der DDR bekannt). Über sich schreibt er: „Erfahrungen in zwei Systemen und in verschiedenen Berufsfeldern. Ich lebe ‚jottwede‘ im Land Brandenburg und genieße es. Manchmal schreibe ich auch über Katzen.“ Stamer betreibt den Blog »Splitter & Balken«.
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