Ein Gastbeitrag von David Rosenberg, Pressesprecher des Zentralrats freigemeindlicher und messianischer Juden in Deutschland (ZMJ)
Als Wladimir Putin am vergangenen Donnerstag im Morgengrauen den völkerrechtswidrigen und irrsinnigen Einmarsch Russlands in die Ukraine befahl, rechtfertigte er diesen als „spezielle Militäroperation“ mit dem Ziel, die Ukraine zu „entnazifizieren“. Ein Zeichen des völligen Realitätsverlustes. Wladimir Putin ist selbst ein faschistischer Autokrat, der Oppositionelle und Kritiker inhaftiert. Er ist der bewunderte Anführer und die Ikone der weltweiten „Rechtspopulisten“. Als ideologischer Antisemit ist er bisher zwar nicht aufgefallen, allerdings ist bei diesem Mann wohl alles nur Kalkül. Er ist das, was ihm Vorteile bringt. Aktuell ist es, ein Naziopfer zu spielen und echte Opfer zu Nazis zu erklären. Logik nach Art des neuen Zaren.
Wie steht es nun um Nazis in der Ukraine? Nun, es gibt eine rechtsextreme Bewegung, und zu ihren bewaffneten Verteidigern gehört das Asow-Bataillon, eine rechtsextreme nationalistische Miliztruppe. Aber diese windschiefen Gestalten sind nur eine Fußnote der Geschichte – wenn überhaupt. Kein demokratisches Land ist frei von rechtsextremen nationalistischen Gruppen, auch Deutschland nicht. Wollen Sie deswegen von Putin mit Raketen “entnazifiziert” werden?
Verlassen wir also die geistige Irrenanstalt und schauen uns die Fakten an: Bei den freien und korrekten Wahlen 2019 kam die ukrainische extreme Rechte auf 2 Prozent der Stimmen. Sie bewegt sich mithin im Popularitätsbereich der ehemaligen deutschen Partei Bibeltreuer Christen und anderer wunderlicher Bewegungen.
Richtig absurd wird es, wenn man sich den zum ukrainischen Nationalhelden aufsteigenden amtierenden und demokratisch gewählten Präsidenten anschaut. Vor vier Jahren war Volodymyr Zelensky ein einfacher jüdischer Schauspieler in der humorvollen ukrainischen Fernsehsendung „Diener des Volkes“, in der er die Rolle eines Mannes spielt, der mehr oder weniger versehentlich Präsident der Ukraine wird. Er wurde es dann tatsächlich im realen Leben. Ein wunderbares Zeichen dafür, wie vital die Demokratie dort funktioniert.
In einer direkten Ansprache an die russische Öffentlichkeit, kurz vor dem Angriff Putins, sagte er in seiner Muttersprache Russisch (von wegen Genozid an ethnischen Russen in der Ukraine…): „Die Ukraine in Ihren Nachrichten und die Ukraine im wirklichen Leben sind zwei völlig verschiedene Länder – und der Hauptunterschied zwischen ihnen ist: Die Ukraine ist real. Man sagt Ihnen, wir seien Nazis. Aber kann ein Volk, das mehr als acht Millionen Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren hat, den Nazismus unterstützen?“
Nach einer kurzen Pause fügte er, der selbst Jude ist, mit fester Stimme hinzu: „Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der sowjetischen Armee mitgemacht hat und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine gestorben ist.“ Drei Brüder seines Großvaters seien beim Holocaust getötet worden.
Zelensky rief die Russen dazu auf, die Kosten des Krieges zu bedenken und entlarvte Putins Argumente. Wie bitter mag für ihn auch das dröhnende Schweigen aus Jerusalem gewesen sein, nachdem er Israel gebeten hatte, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Israel hat einen guten Draht nach Kiew und Moskau, doch Moskau ist für Jerusalem als geostrategischer Partner und de facto Nachbar in Syrien wichtiger als das Überleben der Ukraine. So hart muss man das wohl benennen. Dennoch ist es beschämend, noch nicht einmal ansatzweise zu versuchen, etwas zu unternehmen.
In Deutschland laviert sich derweil der Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ), der jene 90.000 Juden vertritt, die in einer traditionellen Gemeinde organisiert sind, durch den Schlamassel. Denn wie auch beim Zentralrat der freigemeindlichen Juden n.e.V., der mit 41.500 Mitgliedern die restlichen gut 190.000 Juden in Deutschen repräsentiert, stammen über 90 Prozent der Mitglieder aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Natürlich möchte man in solch einer Lage keine unnötigen Gräben aufreißen. Aber Putin einfach so durchgehen zu lassen, dass er ein demokratisches Land militärisch “entnazifizieren” will – das hätte einen lauteren Aufschrei bei den 90.000 traditionellen und staatlich alimentierten Juden in Deutschland auslösen müssen. Von Leuten, die schon beginnen zu hyperventilieren, wenn man einfach nur von einer sonntäglichen Spritztour mit dem “Volkswagen” auf der “Autobahn” erzählt. Nazi-Chiffren würde es dann heißen und die Aufregung wäre vehement.
Wir dagegen haben auf allen uns verfügbaren Wegen versucht, die Juden in der Ukraine (aller theologischen Ausrichtungen) zu einer Flucht nach Westen zu motivieren und dabei zu helfen. Statt Unterstützung für unsere Hilferufe dröhnte auch uns aus Berlin und anderen Hauptstädten nur Schweigen entgegen.
So, und nun sind, vor allem betagte und weniger begüterte, Jüdinnen und Juden in der Ukraine in akuter Lebensgefahr, weil Herr Putin sie mal gründlich mit Panzern “entnazifizieren” will. Geht es noch verrückter? Währenddessen bemitleidet man sich bei unseren staatlich alimentierten Kollegen der traditionellen Gemeinden in Deutschland mal wieder selbst, weil z.B. ein Werbespot für ein Haarshampoo zu sehr im Leni Riefenstahl-Stil gestaltet wurde oder irgendein anderer Unsinn. Einen Grund zum Empören findet man schließlich immer. Derweil stellen sich tapfere Menschen aller Glaubensrichtungen in der Ukraine Putins Panzern entgegen. Das verdient Respekt!
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
David Rosenberg (www.zentralrat-freier-juden.org) ist der Pressesprecher des Zentralrats der freigemeindlichen, messianischen und gemeindefreien Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz n.e.V., abgekürzt ZMJ. Der Zentralrat ist das Repräsentationsorgan der freigemeindlichen sowie der messianischen Juden, Altapostolen und judeo-christlichen Panentheisten im deutschsprachigen Raum. Er hat aktuell gut 41.500 Mitglieder, stetig steigend, wurde 2001 in Frankfurt am Main gegründet, zunächst als rein karitativer Verein und ist seit dem Jahr 2021 der Interessensvertreter der rund 200.000 Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die keiner bzw. keiner traditionellen Gemeinde angehören. Sie gelten damit in offiziellen Statistiken als “gemeindefrei” oder “sonstig”.
Bild: Sergey Kamshylin/ShutterstockText: Gast