Ein Gastbeitrag von Sönke Paulsen
Es ist Freitagabend und ich lebe in Berlin, nicht in Oberbayern. In Berlin gibt es viele Menschen, sehr viele. Manche waren heute nett, andere nicht. Ich kann nicht vorhersagen, wer heute nett zu mir sein wird. Mal ist es einer, der wie ein Türke oder Araber aussieht, und mal jemand, der wie ein Deutscher aussieht, sich dann als Russe herausstellt oder es ist tatsächlich ein Deutscher. Es ist schlicht und einfach nicht möglich, das vorherzusagen.
Ich kenne die Multikulti-Diskussion, solange es sie gibt und war schon damals in Kreuzberg Anfang der Achtziger davon befremdet. Wir lebten in Kreuzberg SO 36 in den gleichen Löchern wie die Italiener, Türken und Berliner. Ofenheizung, Klo auf halber Treppe und die warme Dusche als kleiner Luxus. Wir hatten kaum Kontakt zu den Gastarbeitern, wie sie damals hießen und wenn, war der Kontakt meist wenig erfreulich.
Ich erinnere mich noch gut, wie unser Hausmeister, ein Türke, mir einen angespitzten Schraubenzieher gegen den Bauch drückte, weil ich seiner Frau half, seinen Prügelattacken zu entkommen. Ich weiß noch, wie ich in einem türkischen Cafè Streichhölzer kaufen wollte und von den Männern an der Bar böse angezischt wurde, dass ich besser verschwinde.
Es war die Zeit, als junge Türken mit ihren Mantas die Hochbahn entlangrasten und man besser zweimal schaute, bevor man die Straße überquerte, um nicht als Kühlerfigur zu enden, die zu einem Manta, mit Türken drin, nicht gepasst hätte.
Wallraff als Türke Ali
Es war auch die Zeit, wo Günther Wallraff, als Türke Ali, durch vergaste Tanks gekrochen ist, die er zu reinigen hatte. Lange machte das seine Gesundheit nicht mit.
Auch war es die Zeit, in der wir bei der Bundeswehr auf unserer Stube immer einen Türken hatten, obwohl es gar keine Türken bei uns gab. Der Türke war immer der unterste in der Zimmer-Hackordnung und musste den anderen Bier und Cola holen, sonst gab es Ärger.
Ich wünsche mir die Zeit, in der es erst recht kein Multikulti gab, nicht zurück und den Türken und Italienern, wünsche ich sie auch nicht zurück.
Auch heute gibt es kein Multikulti im nennenswerten Umfang, auch nicht in Berlin, weder in Kreuzberg noch Neukölln, weder in Schöneberg noch Charlottenburg, wenn man darunter unser buntes und lustiges Zusammenleben mit Muslimen verstehen möchte.
Aber es gibt etwas, was mir auffällt.
Von Krise zu Krise wächst man zusammen. Meine anfängliche Bemerkung, dass ich nicht voraussagen kann, wer heute nett oder böse zu mir sein wird, ist alles andere als banal. Früher vor vierzig Jahren konnte ich das. Es waren meistens Ausländer, wie sie damals auch hießen, mit denen ich Ärger hatte. Inzwischen haben wir ein halbes Dutzend Krisen miteinander erlebt.
In den Achtzigern die Deindustrialisierung und die Arbeitslosigkeit von der auch die Gastarbeiter betroffen waren, die sich dann oft selbständig machten, um überhaupt ein Auskommen zu haben.
Die Wendezeit, in der die zugewanderten Muslime auf einmal daneben standen und sich fragten: „ Was geht ab, Alter?“ Es war ja nicht deren Wiedervereinigung. In der Zeit haben sie die Kanaken-Sprache (Kanak Sprak) entwickelt. Vielleicht als Identitätsversicherung. Vielleicht aber waren es auch Deutsche, die es gemacht haben. Es gab jedenfalls ein Wörterbuch.
Teuro-Umstellung
Die Euroumstellung mit dieser heftigen Teuerung, die alle merkten. Viele türkische Kioskbesitzer stellten ihre Preise eins-zu-eins um und wunderten sich, dass keiner mehr die teuren Döner kaufen wollte. Sie mussten eben auch dazu lernen.
Die Anschläge vom Nine-Eleven läuteten eine Zeit des islamistischen Terrors ein, der uns bis heute verfolgt. Ich weiß nicht, wie es den Muslimen in Berlin damals ging, aber ich hatte gehört, dass sich viele nach den Anschlägen vor dem Selbstverständlichen fürchteten, das sie nun von uns erwarteten, weil es in ihren Ländern üblich wäre. Rache.
Die Rache kam nicht, sie war schon da, nur dass damals viele NSU noch für eine alte Automarke hielten. Die Morde an Türken wurden sehr viel später aufgeklärt.
Dann ging es wieder zurück in den Alltag mit viel Arbeitslosigkeit für alle, Hartz IV, die Bankenkrise, die Eurokrise und die Migrationskrise und jetzt Corona.
Nichts als Freunde
All das haben wir miteinander durchgestanden. Nicht als Freunde, möchte ich meinen. Ich habe keine muslimischen Freunde. Ich habe auch vom Multikulti-Ideal nichts mitbekommen, außer bei Künstlern, Musikern und in der Döner-Bude.
Inzwischen aber stelle ich fest, dass ich unbehelligt zum libanesischen oder türkischen Friseur gehen kann und dort ausgezeichnet bedient und behandelt werde. Ich stelle fest, dass in der Autowerkstatt, beim Arzt und im Gemüseladen gute und freundliche Leute sind, deren Herkunft mir egal ist. Auch wenn der Türke im Erdgeschoss meist unfreundlich ist und mir nie die Treppe freigibt, wenn ich hoch will (ich muss mich durchdrängeln).
Meine persönliche, subjektiv erlebte, und geschätzte Wahrscheinlichkeit freundlicher Kontakte mit Muslimen in Berlin ist seit den Achtzigern deutlich gestiegen. Das ist kein Multikulti, aber ich schätze es und akzeptiere diese Leute genauso wie die Urberliner, die mir beim Balkonblumen gießen Wasser auf den Kopf kippen und sich dabei kaputtlachen.
Liebe ist es nicht und ich kann mich auch an keinen Zeitpunkt in Berlin erinnern, wo Gastarbeiter, Türken, Italiener, Araber, generell Muslime irgendwelche Liebe von uns bekommen hätten oder uns, von sich aus, in irgendeiner Weise geliebt haben.
Da habe ich keine Erinnerung dran.
Trotzdem habe ich heute diese Meinung.
Unterm Strich sind die Berliner nicht besonders nett und nette Leute fallen mir daher auf. Viele davon tragen Bart oder Kopftuch.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Sönke Paulsen ist freier Blogger und Publizist. Er schreibt in seiner eigenen Zeitschrift „Heralt“
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