„Es ist ethisch legitim, Kinder bei den Impfungen in den Blick zu nehmen“ Ethikrat zur Corona-Impfung

Von Christian Euler

Noch gibt es für unter 16-Jährige keinen zugelassenen Impfstoff und mögliche Nebenwirkungen sind nicht erforscht. Dennoch häufen sich die Stimmen, nun auch möglichst schnell die junge Generation zu impfen. Die Bundesländer müssten nun zügig alles vorbereiten, um den drei Millionen Heranwachsenden schnell ein Impfangebot machen zu können, forderte etwa Franziska Giffey vor wenigen Tagen, als sie noch Familienministerin war.

Seitdem geht es Schlag auf Schlag: Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Hessen möchten Schüler möglichst vor den Sommerferien impfen und preschen mit entsprechenden Impfplänen vor. Und am Donnerstag kommender Woche finden sich Bund und Länder zum Impfgipfel zusammen.

Experten widersprechen teils energisch, doch der Vorstoß der Politik bekam jüngst prominente Schützenhilfe – vom Deutschen Ethikrat. Wichtig zu wissen: Die Mitglieder dieses Gremiums werden je zur Hälfte vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung vorgeschlagen und vom Präsidenten des Deutschen Bundestages für die Dauer von vier Jahren berufen.

„Auch Kinder und Jugendliche haben eine Verantwortung für die Gesamtgesellschaft – und sie haben vom Impfen unmittelbaren Nutzen“, befand Ethikrat-Mitglied Andreas Lob-Hüdepohl gegenüber der „Welt“. Es sei ethisch legitim, Kinder und Jugendliche bei den Impfungen in den Blick zu nehmen, so der Theologe weiter, der an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin lehrt. „Natürlich immer unter der Voraussetzung eines geringen Risikos und einer geringen Belastung.“

'Eine moralische Impfpflicht für alle gibt es ohnehin'

Es ist eine völlig neue soziologische Perspektive, die der 60-Jährige mit dem lockigen Haar aufzeichnet. Denn bislang verhielt es sich genau umgekehrt: Nicht Kinder tragen die Verantwortung für die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft trägt Verantwortung für die Kinder. Und es war wenig statthaft, sich das Recht zu nehmen, im Namen der Gesellschaft zu sprechen.

Für den Ethikrat gelten offenbar andere Normen – zumal Lob-Hüdepohl übersieht, dass Kinder während der gesamten Coronakrise ein außerordentlich hohes Maß an Verantwortung und Solidarität getragen haben: Sie mussten sich vorwerfen lassen, für den Tod von Großeltern und Eltern verantwortlich zu sein.

Das System Schule mit all seinen Facetten – Bildung, Kontakte, Freundschaften – funktioniere nur, wenn Infektionsketten nachhaltig unterbrochen seien, lautet das Credo von Lob-Hüdepohl. Dass es mehr als strittig ist, das Funktionieren des Schulsystems an eine Impfung zu knüpfen, spielt für ihn offensichtlich keine Rolle.

Ebenso wenig bezieht er in seine Betrachtung ein, dass – wie ein Blick nach Schweden zeigt – die Schulen gar nicht hätten geschlossen werden müssen. Nicht zuletzt könnte sich ein Ethiker – zumal ein Theologe – fragen, ob es sittlich ist, Kindern und Jugendlichen ihre Bildungschancen zu nehmen.

Stattdessen hält Lob-Hüdepohl eine Corona-Impfpflicht mit Blick auf die Schule grundsätzlich für denkbar, sofern sich nicht genug Freiwillige für eine Impfung finden. Immerhin schränkt er ein: „Die Hürden sind aber sehr hoch, weil es sich um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit handelt. Erstens muss das mit einer Impfung verbundene Risiko zumutbar bleiben. Die Nebenwirkungen müssen bekannt und akzeptabel sein. Zweitens muss die Impfung auch erforderlich sein.“

Dass die Impfstoffe in vielen Ländern nur über eine Notfallzulassung und auch in der EU nur über eine bedingte Zulassung verfügen, scheint für den Theologen vernachlässigbar zu sein. Angesichts der hohen Impfbereitschaft geht er davon aus, dass dieses Ziel auch ohne rechtliche Impfpflicht erreichbar sei. Aber – und hier packt er wieder die Moralkeule aus: „Eine moralische Impfpflicht für alle gibt es ohnehin. Jeder sollte sich verpflichtet fühlen, nicht nur sich, sondern auch andere zu schützen. Das gebietet der Grundgedanke der Solidarität in einer Gemeinschaft. Von dieser profitiert jeder.“

Die Ethik ist hierzulande auf der Strecke geblieben

Denn wenn die Pandemie irgendwann zusammenbreche, weil sich viele Menschen impfen ließen, seien auch die Nicht-Geimpften besser vor Gesundheitsschäden geschützt. „Auch diejenigen, die sagen, eine Krankheit ist mir egal. Wenn sie doch in einem Krankenhaus landen, muss die Gemeinschaft dafür aufkommen.“

Dies wirft die Frage auf: Verhalten sich Raucher, Motorradfahrer, Fans riskanter Sportarten, Weinliebhaber etc. vor diesem Hintergrund unsolidarisch?

Mindestens 50 Euro in das Phrasenschwein einzahlen müsste Lob-Hüdepohl für diese Einlassung: „Das Leben in Gerechtigkeit ist eines der grundgesetzlichen Ziele.“ Dies sieht er gefährdet, weil den bei der Impfung Zurückgestellten nun ein doppelter Nachteil entstehe. „Sie müssen Einschränkungen ihres Gesundheitsschutzes hinnehmen und zudem länger warten, bis sie wieder in den Genuss ihrer Grundrechte kommen. Das ist durchaus bedenklich – auch mit Blick auf unsere Verfassung.“

Das Interview von Andreas Lob-Hüdepohl mit der „Welt“ bestätigt eine an dieser Stelle bereits Anfang Februar geäußerte Vermutung – und zeigt einmal mehr: Die Ethik ist angesichts der Krise offensichtlich auf der Strecke geblieben.

 

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

 

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Dipl.-Volkswirt Christian Euler widmet sich seit 1998 intensiv dem Finanz- und Wirtschaftsjournalismus. Nach Stationen bei Börse Online in München und als Korrespondent beim „Focus“ in Frankfurt schreibt er seit 2006 als Investment Writer und freier Autor u.a. für die „Welt“-Gruppe, Cash und den Wiener Börsen-Kurier.
Bild: Shutterstock
Text: ce
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