Von Alice Leistikow
Dass Facebook Beiträge löscht, die den Regierungsmaßnahmen der letzten 18 Monate kritisch gegenüberstehen oder gar die medizinischen Ansichten des RKI in Frage stellen, ist für Reitschuster-Leser natürlich nichts Neues. Neu ist allenfalls die Dimension der gestrigen Löschungen, über die hier ja bereits mit angemessenem Entsetzen berichtet wurde.
Die erschreckende Dimension hatte aber zweifellos auch etwas Gutes. Denn während bisher von der Zensur durch Facebook zumeist nur die Betroffenen und ihre „Follower“ überhaupt etwas mitbekamen, führte an der konzertierten Löschung von 150 Kanälen kurz vor der Bundestagswahl nun auch für die Mainstream-Medien an der Berichterstattung kein Weg vorbei – und damit erreichte die Tatsache der seit 18 Monaten praktizierten Zensur erstmals eine erfreulich breite Öffentlichkeit.
Dass das nicht ohne Folgen bleiben kann, zeigten bereits nach kurzer Zeit die Reaktionen bei tagesschau.de.
Dabei hatte man dort um 20:26 Uhr lediglich einen Beitrag veröffentlicht, der – abgesehen von der gewohnt unkritischen Übernahme der von Facebook angegebenen „Gründe“ und „Framings“ für die Löschungen – fast schon um so etwas wie Distanz bemüht war. (Im Rahmen dessen, was heutzutage so erwartbar ist.) Tagesschau.de hatte gemeldet: „In einem beispiellosen Schritt hat Facebook etwa 150 Kanäle der ‚Querdenken’-Bewegung gelöscht.“ Und weiter: „Diese seien für eine ‚koordinierte Schädigung der Gesellschaft‘ [Anführungsstriche!! Immerhin!] verantwortlich, verbreiteten Falschinformationen und stifteten zur Gewalt an.“
Okay, bei „Falschinformationen“ und „Anstiftung zur Gewalt“ wären die Anführungsstriche sicher auch ganz gut aufgehoben gewesen, aber geschenkt. Wir wollen ja nicht zu kleinlich werden und wenn der Facebook-Sicherheitsmanager das so gesagt hat, dann muss man daraus ja nicht immer gleich ein „Zitat“ machen.
Zumal zu viele Anführungsstriche die Botschaft auch irgendwie schlechter aussehen lassen – schließlich würden die Leser vermittels sehr vieler Gänsefüßchen geradezu auf die Frage gestupst, ob sie ausgerechnet einem Facebook-Sicherheitsmanager glauben wollen, wenn er sie vor Querdenkern warnt. Zumal die Gefahr folgendermaßen wiedergegeben wird:
“Querdenken konzentriere sich in erster Linie darauf, die Verschwörungserzählungen zu fördern, dass die Covid-19-Beschränkungen der deutschen Regierung Teil eines größeren Plans sind, um die Bürger ihrer Freiheiten und Grundrechte zu berauben.“
„Potztausend!“, denkt der Leser öffentlich-rechtlicher Nachrichtenseiten da wahrscheinlich, denn das mit den Grundrechten und den Freiheiten hat man hier so explizit ja wohl nur selten vernommen, und sei es auch nur in indirekter Rede.
Wenn man „zu fördern“ durch „belegen“ ersetzen würde, dann könnte der Satz ja geradezu von Herrn Ballweg persönlich stammen, schauen Sie mal: „Querdenken konzentriert sich in erster Linie darauf, die Verschwörungserzählungen zu belegen, dass die Covid-19-Beschränkungen der deutschen Regierung Teil eines größeren Plans sind, um die Bürger ihrer Freiheiten und Grundrechte zu berauben.“
Also, wenn Sie mich fragen, dann klingt das fast schon in Ordnung so. Als Arbeitshypothese jedenfalls.
Aber was passiert, wenn das auf tagesschau.de veröffentlicht wird, lediglich gefolgt von einem „einordnenden“ Absatz, dass die betroffene „Szene“ bereits vom Verfassungsschutz ins „Visier“ genommen wurde? (Und sich der Leser dann vielleicht an dieser Stelle schon fragt: „Moment mal – Verfassungsschutz? Das ist ja auch irgendwie Regierung … oder?“)
Meine Prognose: Wer nicht selbst schon in den vergangenen 18 Monaten auf die Idee gekommen ist, dass eventuell „die deutsche Regierung die Bürger ihrer Freiheiten und Grundrechte berauben würde“, der könnte sich angesichts einer solchen Begründung für eine breit angelegte Zensur-Aktion von 150 (regierungs-)kritischen Facebook-Kanälen kurz vor der Wahl natürlich schon am Kopf kratzen.
Entsprechend findet sich in der Kommentarspalte einiges, was man in diesem Umfeld schon als mutig bezeichnen muss: Hier verweist jemand vorsichtig auf Orwell, dort auf die Meinungsfreiheit. Hier fällt der Vergleich „China“, dort findet jemand „merkwürdig“, dass die linken Gruppen, ebenfalls „teilweise verachtend bzw. beleidigend“, nicht gesperrt würden. Einer fragt gar schon um 21:37 Uhr:
„Wissen wir Deutsche denn nicht mehr, was es bedeutet, wenn jemand uns vor ‚volksschädigenden Informationen‘ schützen will?“
Um 23:23 Uhr wird es allerdings eng für die Tagesschau. Da fragt nämlich ein Leser, dem Ton nach in aller Unschuld (wie sehr viele Kommentare hier):
Also Facebook löscht Querdenker Inhalte – na bravo. Der Zündmittelhersteller löscht das Feuer, was sein Produkt angerichtet hat. Ist reichlich absurd und Zeichen einer absurden Zeit. Demokratie kann es nicht geben ohne demokratische Medien, das soll allen gesagt sein, die den ÖR in Frage stellen.
Umso mehr sollte sich aber derselbe ÖR die Frage gefallen lassen, wie er es denn mit Querdenker Inhalten in seinen Foren und Plattformen hält. So mancher Post hier (20-30%?) erfüllt alle Kriterien der ‚Löschwürdigkeit‘, die man einer Firma Facebook abverlangt. Da muss der Bürger selber zum Fakenews Korrektör bzw. Faktenchecker werden – seltsam, nicht wahr?
Also, wer ist hier der ‚Demokrat‘ als Institution? Ich würde mich über Denkbeiträge freuen.
Wie bitte? 20-30 Prozent der Kommentare bei tagesschau.de erfüllen „alle Kriterien der Löschwürdigkeit“?!
Was nun? In diesem Moment muss der Redakteur der Nachtschicht nervös geworden sein: Muss etwa tagesschau.de auch zensieren und löschen, was nicht auf Regierungslinie ist? Und das als Frage an alle? Die „Denkbeiträge“, die sich der Fragende zum Thema erhoffte, wollte tagesschau.de offenbar lieber gar nicht erst abwarten. Stattdessen postet man hier nach 3,5 Stunden und 40 Kommentaren:
Am 16. September 2021 um 23:59 von Moderation
Schließung der Kommentarfunktion
Sehr geehrte User,
die Meldung wurde bereits sehr stark diskutiert.
Entscheidende neue Aspekte, die einer konstruktiven Diskussion förderlich wären, sind nicht mehr hinzugekommen.
Deshalb haben wir beschlossen, die Kommentarfunktion zu schließen.
Die Moderation
Das war natürlich schade. Mich persönlich hätte es sehr interessiert, zu erfahren, was die Leser von tagesschau.de von der Idee einer Zensur des „Querdenkens“, der Regierungskritik und der Sorge über dauernden Grundrechtsentzug in den Kommentarspalten der öffentlich-rechtlichen Medien gehalten hätten.
Für alle, die diese Diskussion ebenfalls gern gesehen hätten, hatte tagesschau.de immerhin glücklicherweise schon im Bericht selbst zuvor einen Hinweis hinterlassen, wo weder Zensur „zuschlägt“, noch Kommentarfunktionen plötzlich geschlossen werden:
„In den sozialen Netzwerken ist „Querdenken“ mittlerweile vor allen auf der Plattform Telegram unterwegs. Dort werden selbst extremistische Inhalte nicht (ge-)löscht.“
Na gut – dann wissen die Leser ja wenigstens, wo sie die Frage weiterdiskutierten können. Übrigens wurde die Kommentarfunktion zu dem Bericht: „Der Stresstest für die SPD kommt noch“ erst nach sechs Stunden und 151 Kommentaren geschlossen. Offenbar sind den Lesern zu diesem Thema deutlich länger und deutlich mehr „neue Aspekte“ eingefallen.
Die Autorin ist Journalistin und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Shutterstock
Text: Gast