Hier mein Video zu diesem Text – und anderen aktuellen Absurditäten.
Sie haben, genauso wie ich, geglaubt, in Sachen Zensur könne Sie im Jahr 2023 nichts mehr überraschen? Nun, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – aber ich war baff, als ich heute erfuhr, dass in der Schweiz einem Schriftsteller die Verwendung des Wortes „Zigeuner“ in seinem neuen Buch untersagt werden soll. Denn geht es nach der Baseler Kulturkommission, muss Alain Sulzer auf den Begriff verzichten. Doch das ist nicht sein einziges Vergehen: Er wird auch der „stereotypen Beschreibung“ angeklagt.
Nein, Sie haben sich nicht in einen Roman von George Orwell verirrt. Die Nachricht ist in der „Frankfurter Allgemeinen“ (FAZ) zu lesen, allerdings hinter einer Bezahlschranke. So bleibt wenigstens den Nicht-Abonnenten der Schock erspart.
Man wolle ihn „vor den Ausschuss für unwoke Zustände zitieren“, schreibt der Autor nun mit Galgenhumor, in Anspielung an die Hexenjagd der McCarthy-Ära in den USA, als der Senat einen „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ hatte. Man habe von ihm gefordert, er müsse sich „für ein simples literarisches Verfahren erklären“.
„Die Basler Kulturkommission ist bemüht, in der Literatur nach dem Verbot des N-Wortes nun auch noch einen Bann gegen das Z-Wort durchzusetzen“, schreibt die „FAZ“, die oft genug selbst auf der Wokeness-Welle mitschwimmt: „Sie möchte einen erfahrenen, sprachgewaltigen und für die Anliegen von Minoritäten durchaus aufgeschlossenen Schriftsteller ihrer Vormundschaft unterstellen. Falls er der Aufforderung zur Stellungnahme bezüglich seiner literarischen Absichten nicht fristgerecht Folge leiste, werde man ihm das Geld der Steuerzahler für seine ‚Genienovelle‘ verweigern, lautet die Drohung.“
Tatsächlich hatte Sulzer bei der Basler Literaturförderung einen sogenannten Werkbeitrag beantragt, was inzwischen branchenüblich ist. 25.000 Schweizer Franken waren realistisch, rund 25.600 Euro. Nachdem der vor allem auch in Frankreich sehr populäre Schriftsteller sein Projekt mitsamt den ersten Seiten eingereicht hatte, erreichte ihn die Forderung zur „Nachreichung einer Stellungnahme“, unterzeichnet von Dominika Hens, Leiterin des Fachausschusses für Literatur, so die „FAZ“. Die Forderung des Fachausschusses: „Sulzer solle rechtfertigen, warum er den Begriff ‚Zigeuner‘, der vom Duden als ‚diskriminierend‘ eingestuft werde, verwende.“
Aber nicht genug damit. Der Fachausschuss fordert eine Erklärung Sulzers zur „stereotypen Beschreibung des Wohnumfelds des jugendlichen Protagonisten, in deren Zusammenhang die genannte Bezeichnung eine zentrale Rolle einnimmt“. Mit der euphemistischen Umschreibung sei das Z-Wort gemeint, so die „FAZ“, und der Autor sei mit seiner „stereotypen Beschreibung“ offenkundig schon der Diskriminierung überführt. Den wachsamen Literaturexperten geht es demnach „konsequenterweise auch um die ‚Relevanz‘ dieses Wohnumfelds ‚im Hinblick auf das Gesamtprojekt‘“.
Der Fachausschuss hat laut „FAZ“ den Verdacht, „dass das Projekt zu einem üblen Roman gegen die Roma ausarten könnte“. Die ergänzenden Erklärungen werden demnach von Sulzer „den gültigen Förderbestimmungen gemäß“ eingefordert. Und dies, nachdem man das Gesuch „eingehend besprochen“ und „sorgfältig geprüft“ habe: „Wir hoffen, Sie über den Entscheid in der zweiten Junihälfte orientieren (Schweizerdeutsch für „informieren“) zu können.“
Alain Sulzer tat das einzig Richtige: Er pfiff auf die Zensoren und den Zuschuss. Er spricht offen von Zensur. Und hat Recht. Denn der Duden deckt seine Sichtweise. Das Standard-Werk der deutschen Sprache definiert Zensur wie folgt: „Von zuständiger, besonders staatlicher Stelle vorgenommene Kontrolle, Überprüfung von Briefen, Druckwerken, Filmen o. Ä., besonders auf politische, gesetzliche, sittliche oder religiöse Konformität.“ Es kommt also gar nicht darauf an, ob ein Verbot der Veröffentlichung erfolgt – sondern auf die Kontrolle.
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Laut „NZZ am Sonntag“ wurde den Mitgliedern des Fachausschusses nun ein Maulkorb auferlegt: „Sie mussten eine Stillschweigeklausel unterschreiben.“ Besonders absurd: Um überhaupt in den erlesenen Kreis des Fachausschusses aufgenommen zu werden, der viel Geld verteilt, müssen die Mitglieder in spe eine Art „Schnellbleiche in politischer Korrektheit“ absolvieren: Sie dauert einen halben Tag. Von den „Kunst- und Kulturschaffenden in der Region“, zitiert die „NZZ“ die Verantwortlichen, „wurde die Weiterbildung unserer Gremien im Hinblick auf die Diversitätsfragen ausdrücklich gewünscht“.
Der Eingriff der Kommission ist völlig absurd. Sulzers Roman spielt in den Sechziger- und Siebzigerjahren. „Der Verzicht auf das Z-Wort würde den Schriftsteller zu merkwürdigen stilistischen Pirouetten zwingen“, so die Frankfurter Allgemeine: „Die Folge wäre ein Realitätsverlust seiner Beschreibung. Die Kommission will Sulzers Sprache und den Inhalt seines Werks kontrollieren. Nach den Regeln ihrer Auffassung von Literatur wird die realistische Beschreibung von schwierigen Lebensumständen unweigerlich als Klischee und diskriminierend empfunden.“
All das lässt düstere Wolken am Literatur-Horizont heraufziehen. „Literatur wird zum Instrument der Lesererziehung, die ‚Förderung‘ von Literatur zu ihrer Verhinderung. Wehret den Anfängen“, warnt die „FAZ“.
Und das Blatt bemerkt dabei offenbar gar nicht das Fettnäpfchen, in das es gleichzeitig tritt: Denn ausgerechnet in dem Artikel, in dem das Verbot von angeblich diskriminierenden Wörtern beklagt wird, umschifft sie selbst das Wort „Zigeuner“ weiträumig und verwendet stattdessen in der Mehrzahl der Fälle die Umschreibung „Z-Wort“.
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