Von Gregor Amelung
Seit Wochen gehen die Menschen in Paris und anderen Städten auf die Straßen. Ihr Protest richtet sich vor allem gegen den von der Regierung eingeführten »pass sanitaire«, einen Gesundheitsausweis, den viele Franzosen mit ihrem Verständnis von »liberté« nicht übereinbekommen.
Es ist schwer, sich in den deutschen Medien über die Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen in unserem Nachbarland Frankreich zu informieren. Denn offenbar gehorchen alle Berichte hierzulande einem unsichtbaren Regelwerk. Regel Nummer 1 scheint darin zu bestehen, die Meldungen zu Protesten eher zu verstecken, indem man sie beispielsweise im Live-Ticker ablegt.
Reicht das nicht aus, werden sie im Live-Ticker-Papierkorb mit einem bagatellisierenden Hinweis versehen, wie zum Beispiel dem: »Auch in Großbritannien kam es am Wochenende zu Protesten.« Daraus kann der Leser dann ableiten, dass die Franzosen nicht wegen einem speziellen politischen Anliegen auf die Straße gehen – etwa gegen die am 26. Juli vom Parlament beschlossene Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegekräfte –, sondern dass es sich bei Protesten um ein grenzüberschreitendes »Covidiotentum« handelt.
Zusätzlich dazu fordert Regel Nummer 2 offenbar, dass eine Null weg muss. Also werden aus Hunderttausenden »Zehntausende« und aus »Zehntausenden« Tausende. Funktioniert das nicht mehr wie beispielsweise am vergangenen Samstag, als das französische Innenministerium die Teilnehmerzahl der landesweiten Proteste mit 204.000 angegeben hatte, tritt Regel Nummer 3 in Kraft: Je mehr Demonstranten auf der Straße, desto gewaltbereiter sind sie. Beiden Regeln wird nicht nur im Text, sondern auch in der Auswahl von Fotos und Videos bei den deutschen Qualitätsmedien Rechnung getragen.
»Wasserwerfer abgefeuert«
Bereits vor der offiziellen Zahl von 204.000 Demonstranten hatte man hierzulande Wert darauf gelegt, mit Nahaufnahmen zu informieren, die keinen Aufschluss über die tatsächliche Größe der Proteste zuließen. Seit dem vergangenen Wochenende fiel den Beispielbildern nun noch die Aufgabe zu, die Konfrontationsbereitschaft der »Protestler« dem deutschen Leser nahezubringen, um Textbausteine wie diesen von Tagesschau.de (27.07.) visuell zu unterstützen: »Auch Wasserwerfer feuerte die Polizei auf gewalttätige Protestierende ab. Innenminister Gérald Darmanin verurteilte im Kurzbotschaftendienst Twitter die Gewalt.«
»Könnten die Protestler Macron gefährlich werden?«
In dieser ganz speziellen Art der Berichterstattung bildet die gebührenfinanzierte ARD allerdings keine Ausnahme. So titelte etwa das Handelsblatt am selben Tag: »Corona-Demonstrationen enden in Gewalt«. Und das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtete am 31. Juli: »Schon das dritte Wochenende in Folge demonstrieren in Frankreich lautstark Menschen gegen die Corona-Politik der Regierung.«
In den Redaktionsräumen des entfernten Deutschland offenbar noch erschrocken von der immensen Lautstärke der französischen Demonstranten, fragte man besorgt weiter nach: »Könnten die Protestler Präsident Emmanuel Macron gefährlich werden?« Denn »manches an den Protesten weckt in Frankreich … böse Erinnerungen«, die aus einer »Angst vor [einer] neuen ›Gelbwesten‹-Bewegung« bestünden.
Nur ganz am Rande erfuhr der RND-Leser, worum es den »lautstarken« »Protestlern« tatsächlich ging. Dafür musste er allerdings die Bildunterschrift zu einem Video lesen, dessen Standbild man mit »Polizeikette in Erwartung einer Straßenschlacht« umschreiben könnte oder müsste. Darunter stand dann versteckt in deutlich kleinerer Schrift »Präsident Emmanuel Macron kündigte unter anderem eine Impfpflicht für Mitarbeitende im Gesundheitswesen und neue Regeln für den Gesundheitspass an.«
Die Mitte der Gesellschaft geht auf die Straße
Umso überraschter ist man, wenn man sich im Netz auf die Suche nach den potentiell gewaltbereiten »Covidioten« in Gallien macht. Denn es sind recht viele Menschen, die dort friedlich und flächendeckend ihren Unmut bekunden. Und genauso wie bei den in der deutschen Presse verpönten »Querdenkern« scheint auch in Frankreich eher die Mitte der Gesellschaft auf die Straße zu gehen. Ganz ohne auf Krawall gebürstet zu sein.
Letztendlich sind diese Bilder ein weiterer trauriger Beleg dafür, wie einseitig – bis hin zur Halb- oder Unwahrheit – die deutschen Medien im Moment berichten. Zum anderen dokumentieren die Bilder aus Frankreich auf erschreckende Weise, wie sehr das Versammlungsrecht in Deutschland mit dem Hinweis auf den »Infektionsschutz« bereits außer Kraft gesetzt worden ist. Denn hierzulande wurden Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung regelmäßig von den Behörden verboten und die löchrig begründeten Verbote von den Gerichten gedeckt. Ging man trotzdem auf die Straße, traf man etwa in Berlin auf Innensenator Andreas Geisels Polizeitruppe und erlebte sein blaues Wunder. Entweder im direkten Kontakt mit tretenden, boxenden und prügelnden Polizisten oder passiv beim Anblick derselben.
Offiziell 237.000 Demonstranten, inoffiziell »Hunderttausende«
In Frankreich gingen dagegen jetzt am Samstag laut offiziellen Angaben des französischen Innenministeriums insgesamt 237.000 Menschen auf die Straßen. Das könnte man im allgemeinen Presse-Deutsch eigentlich auch mit einer »Viertelmillion« umschreiben. Tat man aber nicht. Stattdessen las man bei „Die Zeit“ von »über 230.000 Teilnehmern« und beim Deutschlandfunk von »mehr als 230.000 Menschen«.
Die Formulierung »Hunderttausende« wird man hierzulande wohl erst benutzen, wenn die französischen »Querdenker« die Marke von 1.000.000 sicher geknackt haben. Bis dahin wird es allerdings noch einige Zeit dauern. Trotzdem könnte es Präsident Macron Anfang September durchaus mit einer »halben Million« zu tun bekommen.
Augenzeugen, die den Demonstrationen und ihren Forderungen eher wohlgesonnen gegenüberstehen, sprachen bereits am Samstagabend von »mehreren Hunderttausend« Demonstranten alleine in der Hauptstadt Paris. Weitere Eindrücke zu den Corona-Protesten in Frankreich findet man unter dem Suchbegriff »Manifestation contre le pass sanitaire« (Demonstration gegen den Gesundheitspass) oder über »#PassSanitaire #Manifestation« beispielsweise mit »#Paris« für die französische Hauptstadt.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Der Autor ist in der Medienbranche tätig und schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Shutterstock (Archiv, Juli 2021) / Screenshots /Youtube
Text: Gast
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