Hand aufs Herz: Haben Sie es nicht auch satt, ständig negative Nachrichten zu lesen? Bei denen man denkt, es seien „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“? Was sie aber leider nicht sind – denn es sind reale Neuigkeiten aus Deutschland. Ich möchte Ihnen ein Kontrastprogramm bieten, aus meiner Zeit in Russland. Zum Entspannen und Schmunzeln. Voilà:
Mangel muss nicht immer etwas schlechtes sein. Ausgerechnet der Knappheit ist es zu verdanken, wenn man in Russland manchmal auch in reiferen Jahren noch sehr schmeichelhaft angesprochen wird – als „junger Mann“. Etwa vom Wachmann im Supermarkt, der die mitgebrachte Einkaufstasche durchsehen will, oder von der Nachbarin in der überfüllten Metro, die einen dezent darauf aufmerksam macht, dass sie an der nächsten Station den mutigen Versuch unternehmen will, aussteigen und sich dazu im Getümmel an einem strategisch günstigen Platz in relativer Türnähe positionieren will.
In solchen Situationen liegt es dem Ansprechpartner nicht daran, sein Gegenüber mit den Worten „junger Mann“ als besonders jugendlich zu schmeicheln. Und auch Frauen, die als „Dewuschka“, also Fräulein, angesprochen werden, sollten nicht unbedingt den Schluss ziehen, man halte sie für unverheiratet. Dass die Russen bei der Anrede so großzügig sind in der Alters-Einschätzung, liegt schlicht daran, dass sie für reifere Jahrgänge keine passende Anredeform haben. Nicht mehr, wie man der Genauigkeit halber hinzufügen müsste.
Denn vor der Revolution hatte Russland eine Fülle von Anreden, die der von Dienstgraden in der heutigen Armee kaum nachstand: Vom ordinären „Herr“ über den „gnädigen Herren“ bis hin zur „Gefälligsten Herrschaft“ und „Euer Hochwohlgeboren“. „Man muss sagen, wenn man es bei uns in Russland noch nicht geschafft hat, in einigen Dingen die Ausländer einzuholen, so haben wir sie weit überholt in der Kunst des Anredens“, schrieb schon Anfang des 19. Jahrhunderts der große Satiriker Nikolai Gogol.
Der ungeliebte Kommunisten-Gruß
Mit den Kommunisten wurde dann alles anders. Sie suchten sich ein Wort als Anrede aus, das ausgerechnet von den Händlern stammte, und mit dem diese zuvor nicht sonderlich ehrfurchtsvoll Minderjährige, Helfer und Mitarbeiter ansprachen: „Towarischtsch“, auf Deutsch Genosse. Vor der Revolution konnte es auch so eingesetzt werden wie das Deutsche „Freundchen“. Damit war dann rasch Schluss. Genosse wurde zum Prädikat – und wehe dem, dem diese Anrede verweigert wurde. Denn nur diejenigen, mit denen man sich nicht gerne als Genosse in eine Reihe stellte, unzuverlässige Elemente bis hin zu Alkoholikern und Kriminelle, redete man fortan mit „Bürger“ an – mit verächtlichem Unterton.
Die Anrede „Genosse“ sei nicht nur ein Schritt zur klassenlosen Gesellschaft, sondern auch ein erster Meilenstein zur Emanzipation gewesen, behaupten heute russische Sprachwissenschaftler – das russische Wort „Towarischtsch“ kennt keine Unterscheidung zwischen weiblicher und männlicher Form und ist damit politisch korrekt. Aber natürlich nur in Sachen Gleichberechtigung, und ganz und gar nicht weltanschaulich. So geriet der „Genosse“ nach Glasnost und Perestroika aus der Mode.
Medwedew redet noch von 'Genossen'
Auch wenn Dmitrij Medwedew bei seiner Amtseinführung seine Kremlwache mit „Genossen“ anredete und Wladimir Putin sich schon mal als „Genosse Präsident“ bezeichnen ließ, sei dem normalen Moskau-Besucher nicht dazu geraten, sich mit diesem Wort an den Nachbarn in der Metro oder im Supermarkt zu wenden. Welche Anrede dann zu empfehlen ist, werden Sie nun fragen. Und legen damit den Finger in die Wunde. So altmodisch der „Genosse“ inzwischen ist – so sehr fehlt es an einer zeitgemäßen Anrede. „Herr“ oder „Frau“ ist zwar im Schrift-Russisch wieder gebräuchlich – mündlich klingt es dagegen gestelzt. „Bürger“ oder „Bürgerin“ hat nie den bitteren Beigeschmack als „Genossen“-Ersatz für unzuverlässige Elemente ablegen können.
Alle möglichen Ersatz-Wörter sind heute im Umlauf – doch keines machte das Rennen. „Junge“ ist zu sehr auf eine Altersgruppe begrenzt“, „Kerl“ zu grob, „Landsmann“ und „Mannsbild“ klingen zu altertümlich. Auch Kompromisse wie „Herr Genosse“ oder „Genosse Bürger“ konnten sich nicht durchsetzen. Alte Mischformen sind passé – klang „Genossin Putzfrau“ für russische Ohren noch passabel, wäre „Frau Putzfrau“ eher eine Verhöhnung.
'Fräulein' fiel zum Opfer
Teilweise nimmt die Suche nach Alternativen komische Formen an – Ex-Präsident Boris Jelzin verplapperte sich und begrüßte seine lieben „Russlandser“, Wladimir Putin wandte sich ans Volk mit dem Wort „Kollegen“, was ihm die – nur heimlich geäußerte – Frage einbrachte, ob er alle Landsleute für Präsidenten halte oder sich selbst für einen ganz gewöhnlichen Russen.
„Wir haben aufgehört, Genossen zu sein, aber sind noch keine Herren geworden“, beklagt der Moskauer Linguistikprofessor Maxim Krongaus. Als Ausweg hat der Sprachgebrauch inzwischen einfach eine Anrede ohne Anrede hervorgebracht – „Könnten Sie…“ oder „Seien Sie so lieb“. Das klingt Ihnen vertraut, werden Sie nun sagen? Kein Wunder. Denn wir Deutschen haben das gleiche Problem wie die Russen – auch ohne Revolution. Etwas Gleichwertiges zu „Madam“, „Monsieur“ oder „Senor“ unserer mediterranen Nachbarn haben auch wir nicht zu bieten. Spätestens seit das „Fräulein“ der politischen Korrektheit zum Opfer fiel, sind wir in der Anrede sogar noch sprachloser als die Russen.
Nach dem wirklich unangenehmen „Job“ mit dem Lauterbach-Interview bin ich Ihnen für ein Schmerzensgeld besonders dankbar – und verspreche dafür, auch beim nächstem Mal wieder in den sauren Apfel zu beißen und wachsam an dem gefährlichen Minister dran zu bleiben! Aktuell ist (wieder) eine Unterstützung via Kreditkarte, Apple Pay etc. möglich – trotz der Paypal-Sperre: über diesen Link. Alternativ via Banküberweisung, IBAN: DE30 6805 1207 0000 3701 71. Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut.
Bild: iPics/ShutterstockLust auf mehr Geschichte über Igor und aus Russland? Die gibt es auch als Buch:
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