Es sind erstaunliche Zahlen: Deutschlandweit gab es in der Saison 2020/2021 nur 519 im Labor bestätigte Fälle von Grippe. Wenn man das an der Definition der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) des Robert Koch-Institut (RKI) misst, ist die Grippewelle damit ausgefallen. Seit 1992 die Grippeüberwachung eingeführt wurde, ist dies noch nie geschehen. Das Phänomen ist laut RKI nicht nur auf Deutschland beschränkt – es ist auch in den meisten anderen Ländern der Nordhalbkugel zu beobachten. Insgesamt gab es dem Bericht zufolge diesen Winter 13 Todesfälle, die mit einer Laborbestätigung eindeutig einer Grippe-Infektion zuzuordnen sind. In den Vorjahren waren es jeweils einige hundert, in der besonders schweren Grippesaison 2017/18 rund 1700. Nach Schätzungen der obersten Gesundheitsbehörde in Deutschland sind die realen Zahlen allerdings deutlich höher: So sind Schätzungen zufolge 2017/18 rund 25.000 Menschen in Deutschland an der Grippe gestorben.
Als Begründung für das Ausbleiben der Infektionswelle gelten Corona-Maßnahmen mit Mindestabständen, Hygiene, Masken, Empfehlungen zum Lüften von Räumen, Homeoffice-Regelungen und zeitweisen Schulschließungen, wie das RKI bestätigte. Da diese Maßnahmen laut RKI „mehr oder weniger in allen Ländern weltweit gegen die Corona-Pandemie genutzt wurden“, hätten Grippeviren weltweit und auch schon im Sommer 2020 auf der Südhalbkugel kaum noch messbar zirkuliert. Ich befragte dazu heute Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf der Bundespressekonferenz:
„Laut dem neuen Wochenbericht der Influenza-Arbeitsgruppe gab es diesen Winter so gut wie gar keine Influenza, also keine Grippe. Die Zahl der Grippetoten betrug bis zu 25.000 im Jahr, nach Schätzungen. Grund, dass es die nicht gab: Hygienemaßnahmen. Müsste man dann auch in Zukunft wegen dieser Gefahr dann die Hygienemaßnahmen auch so beibehalten? Wo ist da die Grenze für Sie? Danke.“
Spahn: „Also zuerst einmal ist es eine gute Nachricht, dass es im Grunde keine Grippewelle in diesem Jahr gegeben hat oder gibt. Sie wäre im Zweifel vielleicht noch in den Ausläufen jetzt. Das zeigt tatsächlich, die Maßnahmen machen einen Unterschied für viele Infektionskrankheiten. Wir sehen es ja nicht nur bei der Grippe, sondern auch bei anderen Infektionskrankheiten. Gleichwohl ist es ja nicht so, dass SARS-CoV-2 und die Folgen vergleichbar wären mit den Folgen der Grippe. Wir sehen eben deutlich schwerere Folgen. Deswegen sind wir ja auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung bei den Maßnahmen gekommen, zwischen einer Grippewelle und einer SARS-CoV-2-Welle. Und diese unterschiedliche Einschätzung, die wir haben, einmal mehr ja auch belegt durch die Erkenntnisse der letzten Monate und der Situation nicht nur auf den Intensivstationen, auch was Long-COVID angeht. Wir schauen immer sehr stark auf, nachvollziehbarerweise, auf die Zahl der zu beklagenden Todesfälle auf den Intensivstationen. Aber wir haben ja auch viele andere Folgen dieser Erkrankung und deswegen kommen wir eben dann auch im Umgang mit einer möglichen Welle zu einer unterschiedlichen Einschätzung, zumal es einen wichtigen Unterschied gibt: Bei der Grippewelle haben wir schon seit vielen, vielen Jahren, ich weiß gar nicht, wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten Impfstoffe. Bei dieser eben erst seit vier Monaten.“
Ich fragte nach: „Aber doch nochmal ganz konkret die Frage: Das ist ja eine moral-ethische Frage, eine sehr schwerwiegende. Wo ziehen Sie die Grenze, nach welchen Maßstäben? Weil die 25.000, wenn man die vermeiden kann mit Hygienemaßnahmen nach den jetzigen Maßstäben, müsste man das ja dann auch machen. Danke.“
Spahn: „Also zunächst einmal 25.000 ist eine Schätzung für 2018/2019, wenn ich es richtig im Kopf habe, gewesen, als wir eine sehr schwere Grippewelle hatten. Das ist jährlich nicht so. Es gibt unterschiedliche Situationen über die letzten Jahre. Zum Zweiten gibt es eine Impfung. Und zum Dritten, deutlich andere Verläufe. Wo ist die Grenze? Ich kann Ihnen jetzt nicht definieren, ab wann. Es gibt ja jetzt nicht den einen Parameter, der sagt, ab dann ist es eine Pandemie, eine epidemische Lage, bei der man dann automatisch zu diesen Maßnahmen greift. Das ist zu digital, null – eins gedacht. Das ist aus meiner Sicht nicht möglich, sondern das ist am Ende ja immer ein Gesamtbild. Und wir haben bei COVID-19, dieser Erkrankung, ja erlebt, zu welcher Belastung und Überlastung, ich meine, nehmen Sie die Situation in Brasilien: Wer immer mal schmerzhaft sehen will, und das tut jedenfalls mir sehr weh, das zu sehen, was passiert, wenn man es einfach laufen lässt, man sieht es in einigen Ländern der Welt – und das will ich vermeiden.
Interessant ist auch die Aktivität der akuten Atemwegserkrankungen (ARE). „Insgesamt liegt die ARE-Konsultationsinzidenz in der 15. Kalenderwoche etwas über dem Wert letztes Jahr um diese Zeit, aber noch deutlich unter den Werten der Vorjahre“, heißt es im aktuellen Influenza-Wochenbericht des RKI. Weiter steht dort: „Die Zahl stationär behandelter Fälle mit akuten respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle) ist in der 14. KW 2021 insgesamt angestiegen. Dabei ist die Anzahl der SARI-Fälle in der Altersgruppe 35 bis 59 Jahre stark gestiegen und liegt auf einem sehr hohen Niveau, das in dieser Altersgruppe bisher nur während der besonders schweren Grippewelle 2017/18 erreicht wurde. Der Anteil an COVID-19-Erkrankungen bei SARI-Fällen ist im Vergleich zur Vorwoche angestiegen und lag in der 14. KW 2021 bei 66 %.“
Ob das Niveau der besonders schweren akuten Atemwegsinfektionen mit stationärer Behandlung in den anderen Altersgruppen ebenfalls auf dem Niveau der Grippewelle von 2017/18 liegt, geht aus dem Wochenbericht nicht hervor. Zumindest konnte ich es ihm nicht entnehmen.
Weiter steht im Bericht: „Die ARE-Aktivität lag seit dem harten Lockdown Ende 2020 bis Ende Februar 2021 auf einem vorher nie erreichten, niedrigen Niveau in den Wintermonaten. Von der 9. KW stieg die ARE-Aktivität kontinuierlich bis zur 12. KW 2021 an, um dann mit dem Beginn der Osterferien erneut abzufallen. Die ARE-Aktivität ist in der 15. KW 2021 im Vergleich zur Vorwoche insgesamt nun wieder gestiegen. Die registrierten akuten Atemwegserkrankungen werden in dieser Saison bisher hauptsächlich durch Rhinoviren, SARS-CoV-2 und humane saisonale Coronaviren bestimmt. Influenzaviren wurden in keiner der bisher 4.026 untersuchten Sentinelproben nachgewiesen.“
Bild: Boris Reitschuster / Screenshot/Youtube/Phoenix
Text: br
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