Manchmal sind es die Kleinigkeiten, die mehr über den Zustand einer Gesellschaft aussagen, als die längsten Analysen.
Die „Indianerhäuptling-Affäre“ der Berliner Grünen ist so ein Fall.
In zwei Sätzen: Grünen-Landeschef Werner Graf hatte die Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl, Bettina Jarasch, in einer Vorstellungsrunde gefragt, was sie als Kind gern geworden wäre. Jarasch antwortete daraufhin: „Indianerhäuptling“.
Damit löste sie massives Entsetzen aus, sie musste sich entschuldigen, die Stelle wurde aus einem Video vom Parteitag entfernt.
Mehr muss eigentlich nicht gesagt werden über den Zustand unserer Gesellschaft 2021. Oder genauer gesagt: Von Teilen unserer Gesellschaft.
Das besonders Verrückte: Wie kommt man darauf, dass es Indianer beleidigen könnte, wenn jemand in seiner Kindheit Indianerhäuptling werden wollte?
Das erschließt sich mir nicht.
Dass Jarasch für ihren Kindheitswunsch eine Selbstanklage abgeben musste, die an den Geist der Selbstanklagen in der Sowjetunion unter Stalin erinnert, ist schlichtweg mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbar. Genauso wenig, wie die Entlassung eines Sportmoderators dafür, dass er Japan als „Land der Sushis“ bezeichnete – was es zweifelsohne ist.
Es habe sich um eine „unreflektierte Kindheitserinnerung“ gehandelt, schämte sich Jarasch laut Tagesspiegel. „Auch ich muss noch viel lernen.“ Weil doppelt gebüßt besser hält, setzte sie auf Twitter noch einen drauf bei der Selbstgeißelung: Sie erklärte, sie habe mit einem Parteimitglied gesprochen, das von dem Indianer-Ausspruch persönlich betroffen und „tatsächlich verletzt“ sei. Damit ihre Aussage aus der Vorstellungsrunde „nicht uneingeordnet im Livestream“ stehenbleibe, sei diese nachträglich gelöscht worden.
Ich habe einen Ausdruck benutzt, den Menschen als diskriminierend empfinden können, und zwar sehr konkret. So etwas passiert. Inzwischen habe ich mit einem Parteimitglied gesprochen, die das persönlich betrifft und die dieser Ausdruck tatsächlich verletzt. Auf eine solche..(1/3) https://t.co/Kd5xK0I1j8
— Bettina Jarasch (@Bettina_Jarasch) March 27, 2021
Dort, wo vorher die Aussage Jaraschs im Parteitagsvideo zu hören war, ist nun zu lesen, dass „an dieser Stelle ein Begriff benutzt“ wurde, „der herabwürdigend gegenüber Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen ist“. Weiter heißt es: „Auch wir lernen ständig dazu und wollen weiter daran arbeiten, unser eigenes Handeln und Sprechen auf diskriminierende Denkmuster zu hinterfragen.“
Die Partei, in der dies passiert, könnte ab Herbst den Bundeskanzler stellen und dieses Land regieren.
PS: Ich habe versucht, russischen Freunden den Sachverhalt zu erläutern. Sie haben mich mit großen Augen angestarrt und wollten es mir nicht glauben. Was sie sagten, als ich ihnen glaubhaft machen konnte, dass der Sachverhalt sich tatsächlich so zugetragen hat, kann ich hier nicht wiedergeben, weil es nicht druckreif ist.
PS: Der Kommentar meines Korrektors: Ist es aufgrund der Diversität nicht so, dass jeder sein kann, was er möchte? Also auch Indianerhäuptling?
PS: Kommentar von Arne Ausländer: ‚
Hier muß wohl ausführlicher erklärt werden, was so erschreckend an diesem kleinen Skandal ist. Sonst ist die Reaktion der russischen Freunde in der Schärfe unverständlich und auch nicht, warum es auch für uns ein großes Alarmsignal sein sollte, wenn derartiges geschieht.
Der Hintergrund ist der Stalinismus um 1930, als Menschen oft willkürlich beschuldigt wurden, nicht selten wegen absurder Dinge. Ilf-Petrow prägten dazu den Ausdruck „Land der unerschrockenen Idioten“. Solche Beschuldigungen mußten stets ernst genommen werden, es folgte das Ritual von „Kritik und Selbstkritik“, ein zentrales Element stalinistischer Machtpraxis. Der Beschuldigte durfte sich nämlich ganz grundsätzlich nicht gegen die Kritik verteidigen, sondern mußte sie sich zu eigen machen und durch möglichst extreme Selbstkritik noch bestärken. Ob daraufhin Begnadigung oder Verdammung (bis hin zur Erschießung) folgte, war reine Willkür, eine Logik war nicht erkennbar. Die Verweigerung des Rituals dagegen war das sichere Ende, mindestens der Karriere, wenn nicht des Lebens. Die Feinheiten veränderten sich in den Jahren bis zu Stalins Tod, mal wurde es strenger, mal etwas entspannter. Das Prinzip aber blieb dasselbe, auch in den Ostblockstaaten nach 1945 wurde es eingeführt.
Vielleicht versteht man nun das Erschrecken, wenn im Deutschland des Jahres 2021 ein Bilderbuch-Exemplar des Rituals von Kritik und Selbstkritik allen Ernstes durchexerziert wurde. Wie von vielen nicht-stalinistischen Genossen um 1950 im Ostblock muß es als Vorzeichen schlimmster Repressionen verstanden werden. Damals folgten z.B. die Schauprozesse gegen Slansky u.v.a., die oft mit Todesurteilen endeten.
Es ist wieder so weit!
Wenn wir es nicht jetzt – in letzter Minute – stoppen
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Bild: Boris Reitschuster
Text: br