Die massivsten Einschränkungen der Grundrechte der Bürger seit Bestehen der Bundesrepublik werden vor allem mit der Gefahr einer Überlastung des Gesundheitswesens begründet. Der frühere Vize-Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof hatte in einer Generalabrechnung mit der Bundesregierung insbesondere auch diese Begründung kritisiert (siehe Bericht hier). Der Staatsrechtler macht geltend, es sei Aufgabe des Staates, für ausreichende medizinische Kapazitäten zu sorgen. Ich wollte heute auf der Bundespressekonferenz von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wissen, wie er zu dieser Kritik steht – gerade in Anbetracht der vielen Klinik-Schließungen und eines massiven Rückgangs der Zahl der Intensivbetten mitten in der Krise. Wie oft antwortete der Minister sehr ausführlich – aber zumindest in Teilen an der Sache vorbei. So einleuchtend seine Argumentation in Sachen Pflegepersonal ist – so weicht er etwa dem Thema Krankenhaus-Schließungen aus. Mein Zwischenruf, was mit den Kollateralschäden sei, veranlasste ihn noch zu einer längeren Ausführung über die Risiken von Covid-19. Wobei er auch da auf Kollateralschäden nicht einging. Lesen Sie unten das Stenogramm oder sehen Sie sich die Szene hier ab Zeitmarke 2.45 an.
Besonders bemerkenswert in meinen Augen: Während des Radelns zur Bundespressekonferenz sprach ich mit einem ehemaligen Regierungsmitglied am Telefon. Er erklärte mir seine Version des Regierungshandelns. Er findet nur eine Erklärung dafür, dass Merkel & Co. im Moment auf unpopuläre Schritte setzen und den massiven Verlust an Vertrauen bei den Umfragen akzeptieren. Er glaubt, kurz vor der Bundestagswahl im Sommer werde die Regierung die große „Öffnung“ verkünden, und dann ganz auf die Vergesslichkeit und Euphorie der Menschen setzen für die Bundestagswahl im September. Wobei er das nicht im Sinne einer „Verschwörungstheorie“ sieht, sondern als politische Taktik. Wegen dieses Vorgesprächs musste ich aufhorchen, als Spahn dann in seiner Antwort an mich genau davon sprach, dass im Sommer alles zu Ende gehen werde. Ich will Ihnen auch noch ein weiteres Zitat des ehemaligen Regierungsmitglieds verraten: „Wenn dann erst mal wieder gewählt ist und die Mehrheitsverhältnisse für vier Jahre stehen, dann kann man im Oktober auch die vierte Welle ausrufen und den nächsten Lockdown verkünden. Das Gedächtnis der Menschen ist bekanntlich kurz, und ihre Geduld groß.“
Beachtlich fand ich auch, dass Spahn gleich zweimal auf der Bundespressekonferenz davon sprach, in der aktuellen Krise solle man die Parteipolitik hintanstellen. Wieler sprach in einem anderen Zusammenhang davon, dass ohne einen strengeren Lockdown mehr Menschen sterben würden, könne man nicht diskutieren. Mir machen solche Aussagen in einer Demokratie Angst. Auch in einer Krise muss diskutiert werden. Wir sollten uns hüten in ein „Hurra minus Patriotismus“ zu verfallen, wie es einst Kaiser Wilhelm der Zweite pflegte, der zu Beginn des Ersten Weltkrieges sagte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Die Stimmung im Lande, wie sie von Medien und Politik erzeugt wird, erinnert in Vielem an eine Gesellschaft im Kriegszustand. Es wird mobilisiert und Kritik an den Maßnahmen der Regierung wird als Verrat beziehungsweise als Feindseligkeit aufgefasst. Genau das sollte in demokratischen Gesellschaften nicht geschehen. Schon gar nicht in Friedenszeiten.
Aber nun hier mein Wortwechsel mit Spahn auf der Bundespressekonferenz.
REITSCHUSTER: Herr Spahn, der Ex-Vizepräsident des BVG, Herr Kirchhof, hat Ihre Corona-Politik kritisiert. Er sagte, es sei schwierig, wenn man die Einschränkungen der Grundrechte mit einer möglichen Überlastung der medizinischen Einrichtungen begründe. Er sagte wortwörtlich: “Da muss der Staat einfach mehr Einrichtungen schaffen.” Warum ist bisher eher das Gegenteil zu beobachten, Rückgang von Intensivbetten, Schließung von Krankenhäusern?
SPAHN: Die Frage, das hat ja Professor Wieler gerade schon gesagt, ist nicht die Zahl der Betten. Betten – und auch im Zweifel Beatmungsgeräte – haben wir auch noch vorrätig, davon haben wir genug. Das Thema ist das Personal. Und jedem – wissen Sie, alle Umfragen zeigen den Deutschen ist die Frage, wie wir das Pflegepersonal, welche Rahmenbedingungen wir ihnen geben – sehr, sehr wichtig. Wir entscheiden aber alle gerade miteinander, jeden Tag, durch unser eigenes Verhalten, die Rahmenbedingungen der Pflegekräfte in den Krankenhäusern ziemlich sehr.
Und eins ist übrigens sehr wichtig, denn wir schauen immer auf die Intensivstationen. Wir haben so viele Covid-19-Patienten in den Nicht-Intensiv-Bereichen, in den Kliniken, wie auch schon lange nicht mehr. Und auch in diesen Bereichen, die müssen ja isoliert werden, weil infektiös, möglicherweise. Das ist riesen… richtig aufwändig, nicht nur auf der Intensivstation, sondern auch in den anderen Stationen der Krankenhäuser. Und das ist gerade alles eine enorme Belastung für das Pflegepersonal, die Ärztinnen und Ärzte. Übrigens: Die Reinigungskräfte. Alle! Seit Monaten. Und: Intensivpflegekräfte ausbilden geht nicht in sechs Monaten. Das wird auch das Verfassungsrecht, da können sie fünf Gesetze ändern, die müssen ja gut ausgebildet sein. Nicht ändern. Wir haben so viele Intensivmedi-Pflegekräfte wie wenige andere Länder auf der Welt. Wir haben Kapazitäten, wie wenige andere Länder auf der Welt, aber wir haben sie nicht unendlich. Und jedem, dem daran gelegen ist, dass wir unsere Intensivpflegekräfte nicht so verschleißen, dass anschließend übrigens viele sagen: “Ich mach das jetzt hier noch einmal mit, aber danach bin ich weg.” Das ist nämlich eine Stimmung, die da gerade entsteht. Dass wir dann nach dieser Pandemie erst recht Probleme haben in den Intensivstationen, beim Personal. Wem daran gelegen ist, dass das nicht passiert, dem sollte auch daran gelegen sein, dass wir die Zahl der Covid-19 Intensivpatienten und klinischen Patienten runterbringen.
REITSCHUSTER: Welche Schritte haben Sie konkret unternommen, um die Zahl zu erhöhen und mit welchem Ergebnis hat sich die Zahl erhöht?
SPAHN: Herr Reitschuster, eine Intensivpflege-Ausbildung braucht zwei, drei Jahre. Das ist eine Fachausbildung, zusätzlich zu Pflegefachausbildung. Die kann man nicht in zwölf Monaten eben mal erhöhen. Es sind viele zusätzlich geschult worden, um im Fall der Fälle einspringen zu können. Das hat ja schon stattgefunden über den Sommer, in ganz vielen Kliniken. Man wird zusätzlich Notbehelfssituationen schaffen können. Es ist dann aber keine optimale Behandlung mehr. Maßnahmen um Notbehelfe und Pläne zu entwickeln, die gibts seit letzten Frühjahr und Sommer. Das ist alles entwickelt worden. Die Frage ist nur, ich verstehe manchmal die Logik dahinter nicht: Wollen wir warten bis 10.000 Covid… also was issen die Logik? Wollen wir warten bis? Also, wollen wir die Grenze austesten? Wollen wa’s einmal austesten, was das Land kann? In einer Notsituation in der Intensivstation? Was soll das für ein Gedankengang sein? Das sind fünf-, zehn-, fünfzehntausend möglicherweise mehr Covid-19 Patienten, die leiden. Familien, die leiden. Jeder zweite Beatmete verstirbt.
REITSCHUSTER: Die Kollateralschäden leiden auch.
Sprecherin: (Räuspert sich)
SPAHN: Also wir sind jetzt in einer Situation… Entschuldigung, aber…
Sprecherin: Ich würde jetzt hier gerne keine Diskussion zulassen.
SPAHN: Ich will nur noch, weil das ja ein Thema ist, das viele, wir sind jetzt gerade in einer Phase, ich hab das, glaube ich, schon mal so gesagt, mir wurde dann gesagt, nicht Kilometer 38 beim Marathon ist der Schwierigste, sondern Kilometer 33, 34… wo auch immer. Wir sind gerade in einer Phase, wo das Ziel das ja nicht irgendwie Pfeifen im Walde ist. Also wir… es ist ja nicht unendlich weg. Deshalb ist der Begriff der Brücke ja durchaus richtig. Sondern, dass wir jeden in Deutschland impfen können. Den Zustand werden wir, nach allem was wir heute in Deutschland an Lieferzusagen, Plänen und Sicherheit haben, im Sommer erreichen. Und der Sommer ist noch ein Quartal weg. Der geht dann ein bisschen länger. Das wird dann ja nicht Anfang Juli gleich sein alles. Aber im Sommer. Es geht jetzt hier gerade nochmal um einige Wochen, Monate miteinander. Die Überlastung, die wir jetzt zwölf Monate hier erfolgreich vermieden haben, zu vermeiden. Und ja, ich bins genauso leid, wie alle anderen auch. Ich will da auch raus. Und ich will auch wieder Alltag. Und ich will auch wieder feiern. Und ich will auch wieder Gastronomie und Einkaufen. Aber so kurz – und wer hätte gedacht vor sechs Monaten, dass wir überhaupt einen Impfstoff haben – so kurz vor Erreichen eines umfassenden Impfschutzes der Bevölkerung zu sagen, ja dann lassen wirs halt passieren, ist jedenfalls keine Politik, die ich vernünftig finde.
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Bild: Reitschuster/Quehl
Text: br