Hausarzt mit Impfzwang "Hippokratisch verbrämter Impfstalinismus"

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Rießinger

Im niedersächsischen Landkreis Osnabrück liegt die Gemeinde Wallenhorst, die bisher noch keinen allzu großen Niederschlag in der Weltgeschichte gefunden hat. Das könnte sich nun ändern, denn ein wichtiges Mitglied dieser Gemeinde, ein seit sieben Jahren als Hausarzt praktizierender Internist, hat Ende Juli den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt: Wie wir der verdienstvollen Zeitung »Bild am Sonntag« in ihrer Online-Fassung entnehmen können, behandelt er keine Impf-Verweigerer mehr. „Wer sich nicht impfen lassen will und meine Praxis betritt,“ so zitiert ihn die Zeitung, „gefährdet mein Personal und meine Patienten. Das kann ich nicht verantworten.“ Er impfe selbst und rate auch „eindringlich zum Pieks“, jedoch, um ihn wieder selbst zu Wort kommen zu lassen: „Leuten, die sich total verweigern, sage ich, dass ich sie nicht mehr behandeln kann.“ Denn „jeder, der sich weigert, gefährdet Kinder oder kranke Menschen, die auf den Schutz der Gesellschaft angewiesen sind.“

Ein beeindruckendes Dokument ärztlicher Verantwortung, hier hat jemand das Genfer Gelöbnis ganz genau studiert, wo es unter anderem heißt: „Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.“ Wie seltsam: Es heißt „meiner Patientin oder meines Patienten“ und nicht etwa „meiner geimpften Patienten“. Und noch schlimmer, im Genfer Gelöbnis, das immerhin in die Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärzte aufgenommen wurde, findet man auch noch den Satz: „Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.“ Allem Anschein nach handelt es sich bei den Konzepten von Autonomie und Würde um veraltete Konstrukte, die man als Mediziner nicht mehr beachten muss, sofern sie den eigenen Vorstellungen des behandelnden – oder eben nicht mehr behandelnden – Arztes widersprechen. Dem wackeren Hausarzt geht es nur noch um Autonomie und Würde geimpfter Patienten, die anderen „sind unsolidarisch und feige. Sie schädigen andere gesundheitlich und wirtschaftlich.“ Der wirtschaftliche Schaden, das hat er wohl vergessen, geht allerdings nicht von Ungeimpften aus, sondern von unverhältnismäßigen politischen Maßnahmen, aber wer wollte so kleinlich sein, ihm das vorzuhalten.

Natürlich kann er dem Problem des Genfer Gelöbnisses aus dem Weg gehen, indem er einfach den Nichtgeimpften den Status des Patienten abspricht, weshalb die zitierten Sätze nicht mehr auf sie angewendet werden können. Gilt das auch für den ersten Satz des Gelöbnisses: „Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen“? In den Dienst der Menschlichkeit und nicht in den Dienst der „Bürgerpflicht“, als die er die Impfung bezeichnet.

Nur kurz will ich die Frage in den Raum werfen, ob er in früheren Zeiten bei schweren Grippewellen seine Patienten auch schon nach ihrem Impfstatus befragt und den Ungeimpften jede weitere Behandlung verweigert hat. Fast möchte ich vermuten, dass das nicht der Fall war, und selbstverständlich konnten Patienten welcher Art auch immer bei einer Grippewelle mit mehr als 20.000 Toten weder für die anderen Patienten noch für das Personal irgendeine Gefahr darstellen. Wie sollte man auch auf die Idee kommen, dass man sich in einer Arztpraxis mit Influenza infizieren und dann sogar daran erkranken könnte? Diese Frage hat den Hausarzt aus Wallenhorst wohl nicht sehr beschäftigt.

Aber werfen wir einmal einen Blick auf seine inhaltlichen Argumente, die darauf hinauslaufen, dass sogenannte Impfverweigerer die Gesundheit des Personals und der Patienten gefährden. Da Geimpfte offenbar noch zur Praxis zugelassen werden, muss man wohl folgern, dass dieses Problem bei ihnen nicht entsteht, sondern eben nur bei nicht Geimpften. Wie es aussieht, können in der hausärztlichen Praxis Geimpfte also niemanden anstecken, aber offenbar von Ungeimpften angesteckt werden, womit ihre Gesundheit gefährdet wird. Dummerweise sind aber mittlerweile mehr als genug Fälle bekannt geworden, in denen Geimpfte mit doppelter Impfung nicht nur angesteckt wurden, sondern auch in stattlicher Zahl andere angesteckt haben. Tatsächlich hat die US-amerikanische Gesundheitsbehörde vor Kurzem aufs Neue eine Maskenpflicht in Innenräumen auch für Geimpfte gefordert – man mag das für sinnvoll halten oder nicht – und gesteht inzwischen auch ein, dass Geimpfte das SARS-CoV-2-Virus verbreiten können. Aber natürlich: Das sind ja Viren von Geimpften, die können keinen Schaden anrichten, jedenfalls nicht in Wallenhorst.

Merkwürdige Daten

Wie es scheint, müsste der niedersächsische Hausarzt nicht nur die ungeimpften, sondern gleich alle Patienten der Praxisräume verweisen, um jede gesundheitliche Gefährdung von Patienten und Personal zu vermeiden – eine konsequente Anwendung des Lockdown-Prinzips, er sollte vielleicht einmal darüber nachdenken. Doch gestehen wir einmal um der Diskussion willen die Annahme zu, Ungeimpfte könnten eher zur Virenverbreitung beitragen als Geimpfte. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Es könnte sein, dass Geimpfte deutlich besser als andere gegen eine Infektion (den Unterschied zwischen Infektion und positiver Testung will ich hier nicht wieder thematisieren, mit Ausnahme von Politikern und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollten ihn inzwischen die meisten verstanden haben) geschützt sind – in früheren Zeiten hat man so etwas für eine wesentliche Impfwirkung gehalten, heute scheint das nicht mehr so interessant zu sein. Aber in diesem Fall spielt es keine Rolle, ob sich in den Wartezimmern auch noch Ungeimpfte herumtreiben, sie können ja den geschützten Geimpften nichts anhaben. Wenn nun ein Arzt einem schwerkranken Ungeimpften – es wird zur Zeit gerne vergessen, dass es auch noch andere Krankheiten gibt als COVID-19 – die Behandlung verweigert, um geschützte Geimpfte gegen etwas zu schützen, was ihnen nach ihrer Impfung doch gar nichts Ernsthaftes mehr anhaben kann, dann darf man ihn gerne noch einmal an das Genfer Gelöbnis erinnern.

Vielleicht sind aber die Geimpften in Wahrheit nicht weniger anfällig für Infektionen bzw. positive Testergebnisse als andere Leute, Daten aus Israel und Großbritannien scheinen darauf hinzuweisen, ganz zu schweigen von den Entwicklungen in Gibraltar, in Island und auf den Seychellen. Dann sollte man sich ernstlich fragen, warum sich überhaupt alle impfen lassen sollen, doch diese Frage wäre tatsächlich leicht zu beantworten, sofern man die Anzahl der ernsthaften Krankheitsfälle betrachtet. Ist sie bei Geimpften deutlich niedriger als bei Ungeimpften, haben die Impfungen einen Nutzen, von dem man selbstverständlich genauer als bisher untersuchen müsste, ob er den möglichen Schaden durch Nebenwirkungen übersteigt. Aber man kann dann nicht mehr behaupten, die Geimpften würden durch die Verweigerer der neu definierten Bürgerpflicht ernsthaft gefährdet, denn sie sind gar nicht mehr ernsthaft gefährdet, sondern durch die Impfung geschützt. Und wenn ein Ungeimpfter einen anderen Ungeimpften mit ernsthaften Krankheitsfolgen anstecken sollte, dann ist das nur das Problem der Ungeimpften, nicht mehr das der Geimpften. Bedauerlicherweise liegen Daten aus Israel nicht nur über Infektionsfälle – und das heißt: über positive Testergebnisse – vor, sondern auch über Hospitalisierungen, abhängig vom Impfstatus. Bestimmt man nämlich die Anzahl der geimpften und der ungeimpften Hospitalisierten – und damit vermutlich schwer Erkrankten – pro 100.000 Geimpften bzw. Ungeimpften, so könnten diese Daten sogar darauf hinweisen, dass Geimpfte sogar ein deutlich höheres Risiko einer Hospitalisierung haben als Ungeimpfte und nicht etwa ein niedrigeres.

Ich will hier nicht darüber urteilen, ob diese israelischen Daten korrekt sind oder nicht. In jedem Fall sind sie vorhanden und gehörem zum medizinischen Diskurs, dem sich auch ein tapferer Hausarzt nicht vollständig verweigern sollte. Man kann die Möglichkeit, dass die Impfwirkung deutlich geringer ist als propagiert, nicht einfach durch ein paar Sätze vom hausärztlichen Tisch wischen. Wie man es auch dreht und wendet: Entweder die Impfung wirkt gut, dann liegt für Geimpfte ein hinreichender Schutz vor und es gibt keinen noch so dramatisch vorgetragenen Grund, Umgeimpfte zu diskriminieren. Oder sie wirkt eben nicht so gut wie man möchte, dann sind im Rahmen der individuellen Schwankungen alle ähnlich gefährlich und ähnlich gefährdet und eine Diskriminierung macht noch immer keinen Sinn. Um noch einmal das mehrfach bemühte Genfer Gelöbnis zu zitieren: „Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.“ Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten gelten auch für Ungeimpfte, auch wenn es manchen nicht passt, und zum medizinischen Wissen dürften auch Informationen der zitierten Art gehören.

Bisher ging es noch nicht um eventuelle Nebenwirkungen der Impfstoffe, aber auch da hat der inzwischen prominente Hausarzt in der Bild am Sonntag eine klare Meinung: „Die Impfstoffe sind ausreichend getestet. Alle Testpatienten sind für mich Helden. Um die Pandemie zu stoppen, haben wir kein anderes Mittel als die Impfung.“ Das erscheint mir doch etwas eigenartig. Dass die Impfstoffe ausreichend getestet seien, ist in Anbetracht von nur bedingten Zulassungen und von Entwicklungs- und Prüfungszeiten, die allen bisherigen Gepflogenheiten widersprechen, ein leichter bis mittelschwerer Euphemismus. Der große Test findet zur Zeit statt, in Echtzeit, und das lässt den Satz „Alle Testpatienten sind für mich Helden“ in einem anderen Licht erscheinen. Testpatienten sind, man kann es nach den viel zu kurzen Testphasen während der Impfentwicklung kaum leugnen, die aktuell Geimpften. Die Tests gehen nicht immer gut aus. Ob alle Geimpften zum Heldentum neigen, darf bezweifelt werden, doch hat sie während einer vielleicht – falls überhaupt – erfolgten Impfberatung vermutlich niemand auf ihren Heroismus hingewiesen.

Zu einer verantwortlichen Impfentscheidung und einer verantwortbaren Impfberatung gehören volle Entscheidungsfreiheit des Patienten und Information in jeder Richtung, die die Vor- und Nachteile, die eventuellen Risiken und die erwarteten Schutzwirkungen aufzeigt. Diskriminierung gehört nicht dazu. Nur informierte Patienten und nicht etwa indoktrinierte oder gar gezwungene können eine selbstverantwortete und freie Entscheidung treffen, die dann von jedem, auch vom Hausarzt, zu respektieren ist. Ein hippokratisch verbrämter Impfstalinismus kann dazu nichts beitragen.

Eugen Roth, Autor vieler Gedichte, die oft mit den beiden Worten „Ein Mensch“ anfingen, hat es einmal folgendermaßen ausgedrückt:

„Ein Mensch, der spürt, wenn auch verschwommen,
Er müsste sich, genau genommen,
Im Grunde seines Herzens schämen,
Zieht vor, es nicht genau zu nehmen.“

Leider spüren es viele nicht einmal mehr verschwommen, dass sie sich eigentlich schämen müssten.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!

Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

 

 

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Bild: Shutterstock
Text: Gast

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