Von Kai Rebmann
Wenn es um die Entwicklung neuartiger Medikamente geht – etwa einen mRNA-Impfstoff – so lässt sich die Pharmaindustrie von Regierungen gerne mit Beträgen fördern, die in die Millionen, wenn nicht Milliarden gehen. Ein ganz aktuelles Beispiel ist Moderna, das sich die Entwicklung eines ebenfalls mRNA-basierten Impfstoffs gegen Vogelgrippe von der US-Regierung mit 176 Millionen Dollar sponsern lässt. Im Gegenzug gibt es dann Knebelverträge, die die gesamte Produkthaftung auf die Staaten, sprich die Kunden und unter dem Strich auf den Steuerzahler abwälzen, die nicht unbedingt schmalen Gewinne aber allein in die Kassen der Unternehmen fließen lassen.
Als wäre diese Praxis nicht schon skandalös genug, treibt Big Pharma aber noch ein Spiel, das weitaus perfider ist als das bisher schon bekannte. Faktische oder tatsächliche Monopolstellungen bei lebenswichtigen Medikamenten werden offenbar systematisch ausgenutzt, um einzelnen Staaten teils horrende Preise aufzuzwingen – notfalls auch unter Androhung eines vollständigen Lieferboykotts.
Bereits zur Corona-Zeit galt es als sehr schlecht gehütetes Geheimnis, dass die sogenannten Impfstoffe nicht überall auf der Welt zu denselben Konditionen und erst recht nicht zu denselben Preisen an einzelne Länder verkauft wurden. Grundlage hierfür waren Verträge, die der absoluten Geheimhaltung unterlagen, eben damit sich Pfizer, Moderna und Co nicht in die Karten schauen lassen mussten.
Doch das scheint lediglich die Spitze des Eisbergs gewesen zu sein, wie Journalisten des internationalen Netzwerks „Investigate Europe“ herausgefunden haben wollen. Die Kollegen haben 32 lebenswichtige Medikamente – etwa zur Behandlung von Brustkrebs, Leukämie oder Mukoviszidose – auf deren Verfügbarkeit und die jeweilige Preisgestaltung in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU untersucht.
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Demnach hängen die Überlebenschancen und/oder die verbleibende Lebensqualität von schwer Kranken vor allem davon ab, in welchem Land sie leben bzw. welche Vereinbarung ihre jeweilige Regierung mit dem Lieferanten des entsprechenden Medikaments getroffen hat. Clemens Auer, ehemaliger Generaldirektor des Gesundheitsministeriums in Österreich, bringt das so auf den Punkt: „Wenn es um den Zugang zu Arzneimitteln geht, haben wir eine erste, zweite und dritte Klasse europäischer Bürger – das ist ein Skandal.“
Heißt: Medikamente werden von den Herstellern zuerst dort auf den Markt gebracht, wo der höchste Profit winkt. Nicht selten nehmen dabei Deutschland und Dänemark die Rolle einer Art „Referenzmarkt“ für ganz Europa ein. In beiden Ländern setzen die Hersteller hohe Listenpreise fest, die dann bei Verhandlungen mit allen weiteren EU-Mitgliedsstaaten als Grundlage dienen. Ob und in welchem Umfang Deutschland und Dänemark dann im Nachgang noch Rabatte gewährt werden, weiß niemand – da alles streng geheim ausgehandelt wird.
Wie verschwiegen es dabei zugeht, beschreibt ein mit diesen Vorgängen vertrauter Unterhändler, der seinen Namen nirgends lesen möchte: „Diese Verhandlungen sind völlig geheim. Alles läuft in versiegelten Umschlägen ab, die gegen Unterschriften den Besitzer wechseln. […] Wir erfassen das nicht mal in unseren elektronischen Systemen. Denn wir wollen nicht, dass der Auftragnehmer dazu Zugang hat, der unsere Systeme wartet.“
Mafiöse Strukturen: Angebote, die man nicht ablehnen kann
Clemens Auer ist nicht mehr in Amt und Würden und kann daher frei aus dem Nähkästchen plaudern. Über die Verhandlungen eines Schweizer Pharmaunternehmens mit dem Gesundheitsministerium in Wien berichtet der Österreicher, dass die Eidgenossen einen höheren Preis für ein bestimmtes Medikament durchdrücken wollten. Dabei sei er daran „erinnert worden“, wie viel das betreffende Unternehmen bereits in der Alpenrepublik investiert habe. „Es ist immer dasselbe dumme, sehr primitive Spiel“, stellt Auer heute dazu fest.
Offene oder verklausuliert ausgesprochene Boykottdrohungen sind offenbar kein Einzelfall, sondern eher die „typische Strategie“, wie es heißt. Francis Arickx ist Leiter des nationalen Gesundheitsinstituts in Belgien und einer der wenigen noch amtierenden Insider, die sich namentlich zu diesem Thema äußern: „Ich habe Hunderte dieser Verhandlungen geführt. Die Drohung, dass das Unternehmen nicht am Verhandlungstisch sitzen wird, hören wir ständig und überall.“
So habe es in Belgien im Jahr 2016 den Versuch gegeben, die zwischen Regierung und Pharmaindustrie geschlossenen Rabattverträge näher zu beleuchten. Ergebnis: Die an der Studie beteiligten Forscher durften auf Druck des nationalen Lobby-Verbandes nur eine stark abgeschwächte – und letztlich nichtssagende – Version ihrer Arbeit veröffentlichen.
EU gibt im Kräftemessen mit Big Pharma klein bei
Wie dreist die Marktstellung bisweilen ausgenutzt wird, zeigt das Beispiel des US-Konzerns Vertex Pharmaceuticals. Das Unternehmen verfügt bei der Behandlung von Mukoviszidose mit seinen Produkten Kaftrio und Kalydeco über ein Monopol. Folge: Die Kosten liegen bei 200.000 Euro pro Patient und Behandlung – und damit dem 40-fachen der geschätzten Produktionskosten.
Was eigentlich ein Dementi sein soll, klingt geradezu verräterisch, wenn der Konzern erklärt, dass „die Preise nicht durch Produktionskosten bestimmt werden, sondern durch die Investitionen in Entwicklung, das dabei eingegangene Risiko sowie den Wert für die Gemeinschaft.“ Hierzu seien die einleitenden Sätze über die Entwicklung und die Risikoverteilung bei den Covid-Impfstoffen in Erinnerung gerufen.
Dabei ist „Zentralisierung“ in der EU alles andere als ein Fremdwort – wenn sie denn wirklich will. Wo Brüssel seinen Mitgliedsstaaten und Bürgern ansonsten am liebsten alles haarklein vorgeben will, hält sich die EU ausgerechnet in den wirklich wichtigen Fragen auffällig zurück. Ein ehemaliger Gesundheitsbeamter auf Irland wundert sich: „Dass die 27 Mitgliedsstaaten für sich selbst verhandeln, ist erstaunlich ineffizient und führt zu Ungleichheit für die europäischen Bürger.“
Die wohl entscheidende Frage ist, wer sich bei entsprechenden Verhandlungen jeweils gegenübersitzt. Im Jahr 2017 unterzeichneten 10 EU-Mitgliedsstaaten aus dem Süden Europas, unter anderem Malta, Zypern, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, die sogenannte „Valletta-Erklärung“. Ziel der Vereinbarung war es, gemeinsam gültige Konditionen bei der Beschaffung von Medikamenten auszuhandeln. Problem: Die Gegenseite spielte nicht mit und beharrte auf der gängigen Praxis.
Genau umgekehrt lief es, als die Benelux-Staaten gemeinsam mit Österreich und Irland einen ähnlichen Anlauf bei zwei eher kleineren Produzenten wagten. Diese mussten sich am Ende darauf einlassen, was der Wirtschaftswissenschaftler Paolo Pertile von der Universität Verona so erklärt: „Die kleinen Unternehmen sagen: ‚Ja, mit einer Verhandlung kann ich mehr Märkte erreichen, also stimme ich zu‘, während die großen Unternehmen scheinbar diese Art von Initiative boykottieren.“
Corona ‚hätte Wendepunkt sein können‘
Dass sich an diesen Zuständen in naher Zukunft etwas ändern wird, glaubt kaum jemand. Die Gesundheitsökonomin Sabine Vogler aus Österreich sieht die Verhandlungen im Zusammenhang mit den Corona-Impfstoffen als verpasste Chance an: „Hätte die EU ihre vereinten Kräfte genutzt, um Vertraulichkeitsklauseln nicht zuzustimmen, hätte dies ein Wendepunkt sein können.“ Oder hatte man daran – aus welchen Gründen auch immer – überhaupt kein Interesse?
Und so wird es in der EU bis auf weiteres „normal“ sein, dass Big Pharma mehr oder weniger frei darüber entscheidet, ob ihre Medikamente in bestimmten Ländern überhaupt verkauft werden und, wenn ja, zu welchem Preis. Die Leidtragenden werden dabei in aller Regel die kleinen Länder mit vergleichsweise geringem Marktpotenzial sein.
Ein Insider aus Ungarn, in dessen Land 25 der oben erwähnten 32 Medikamente derzeit kaum oder gar nicht zu bekommen sind, sagt: „Für ein Unternehmen wie Novartis oder Pfizer ist der ungarische Markt ein Rundungsfehler.“ Zyperns ehemaliger Gesundheitsminister Giorgos Pamboridis bemängelt, dass die Preise für bestimmte Arzneimittel auf der Mittelmeerinsel „doppelt, dreifach oder sogar fünfmal so hoch waren wie die von anderen Ländern“.
Irgendwo zwischen selbstherrlicher Arroganz und Größenwahn ist es wohl einzuordnen, wenn Nathalie Moll, Chefin des größten Branchenverbands der Arzneimittelproduzenten in Europa (Efpia), konstatiert: „Jede Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten […] sollte die Vertraulichkeit von Preis- und Erstattungsvereinbarungen gewährleisten. Die Teilnahme der Industrie an jeder Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu Preis-, Erstattungs- und Zugangsfragen sollte freiwillig sein.“
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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