Ideologisierung statt Fakten

Erschreckend, wie intolerant, ja antidemokratisch heute viele – gerade auch von denjenigen, die den Kampf für Toleranz, Offenheit und Buntheit auf ihre Fahnen geschrieben haben – mit abweichenden Meinungen umgehen bzw. nicht umgehen können, und diffamieren. Über die dahinter liegenden psychischen

 

Prozesse habe ich mir lange den Kopf zerbrochen. Eine sehr gute Erklärung liefert Hans-Joachim Maaz, Psychiater und Autor mehrere exzellenter Bücher («Der Gefühlsstau», «Die narzisstische Gesellschaft“). Maaz: «Zunehmend wird jede kritische Stimme, jeder Protest sofort diffamiert….ich hätte mir niemals vorstellen können, dass dies in Deutschland noch einmal passiert, dass die Meinungsfreiheit so bedroht wird….ich denke mir dann, wo leben wir? Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt, dass Andersdenkende sofort wieder so verfolgt und beschimpft werden?». Maaz klagt, dass Realität «verweigert, ja nahezu verleugnet wird, dass reale Probleme vertuscht…(und) bagatellisiert werden, dass eine Ideologisierung erfolgt, statt Fakten zur Kenntnis zu nehmen.» Aussagen wie «Weiter so» oder «alternativlos» seien irrational, so der Psychiater. Innere, verdrängte Zweifel an der eigenen Haltung und Ängste würden durch Aggression gegen diejenigen kompensiert, die diese Zweifel und Ängste aussprechen. Verdrängte eigene Züge wie Intoleranz oder Fremdenfeindlichkeit würden auf andere projektiert. Der Psychiater nennt dies einen „primitiven Abwehrmechanismus“.

 

Maaz´ erschreckendes Fazit: Viele Deutsche sind nur äußerlich «demokratisiert»- aber innerseelisch sind sie in antidemokratischen Denkweisen verhaftet, und können deswegen etwa abweichende Meinungen nicht ertragen. 

Hier ein rund 30-minütiges Video, dass ich den gefühlten 95 Prozent der Leser hier, die keine ideologischen Scheuklappen haben und mit abweichenden Meinungen umgehen können, wärmstens empfehle (die restlichen fünf Prozent würden sich nur aufregen und die von Maaz beschriebenen Abwehrmechanismen aktivieren»).*

 

 

 

P.S.: Sehr interessant auch was der große Historiker Winkler zu diesen traurigen Phänomen sagt (im Juli in der WamS):

WELT AM SONNTAG: Zum Abschluss ein Wort über die Debattenkultur: Für meine Begriffe hat sich eine Unerbittlichkeit in der Bekämpfung anderer Meinungen breitgemacht, die schärfer als früher ist. Teilen Sie diese Ansicht?

Winkler: Die deutsche Debattenkultur trägt leider immer noch Schlacken der absolutistischen Zeit. Es gibt auch eine Art von intellektuellem Absolutismus, die typisch ist für Staaten, die eine lange absolutistische Vergangenheit haben. Das gilt leider auch für Deutschland. Man findet diese Unerbittlichkeit im pragmatischen angelsächsischen Denken sehr viel weniger. In Deutschland gibt es in der Debattenkultur noch immer Spuren der Parole: „Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag’ ich dir den Schädel ein.

Diese Art von politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie. Das ist ein Beispiel für das, was ich als altdeutsche Relikte bezeichnen würde. Als ich zur Jahrtausendwende meine deutsche Geschichte „Der lange Weg nach Westen“ abschloss, war ich etwas optimistischer und dachte, diese Art von Verbissenheit hätten wir hinter uns. Es gibt aber leider ein Fortwirken deutscher Sonderwege bis in die Gegenwart hinein.

*) Ich bin mit Maaz in vielem nicht einer Meinung – etwa auch in seiner Einschätzung der Ursachen unserer Krise angeht. Auch über seine Einschätzung der «Normopathie» und vieles andere kann man lange streiten. Aber zur Demokratie gehört Toleranz zu anderen Sichtweisen. Und Maaz´ Erklärung der Irrationalität und fehlenden Toleranz, ja Gehässigkeit gegenüber anderen Meinung halte ich für brillant – und für Pflichtlektüre.

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