Von Mario Martin
Die Melodie erinnert mich an meine erste E
Einzigartige Situation, immer noch sechzehn und rallig
Zeig in den Himmel, fühl dich frei
Ein Meer von Menschen, alle gleich, lächeln vor und hinter mir
Schwimmen im tiefblauen Meer, Maisfelder wiegen sich träge
Alles lächelt, alles ist leicht
„Woher kommst du, was treibst du und was ist deine Geschichte?“
Mesmerisierende Töne, aufsteigende Klaviere, dies ist meine Welt, also hör auf andere zu kopieren
Nimm Papier, Schere oder Stein
Denn du und ich, wir sind gleich
Ich kenne dich schon mein ganzes Leben, ich kenne deinen Namen nicht
Ich heiße European Bob, klar.
Wie auch immer, wir tanzen jetzt, wir sehen uns später
„Freut mich, Dich kennenzulernen“; „Gleichfalls, ein Vergnügen“– The Streets – Weeks Become Heroes – 2002
Heute meldete sich eine Freundin bei mir. Sie klang angeschlagen und berichtete mir eine bedrückende Geschichte. Sie sei zu einer Geburtstagsfeier bei guten Freunden eingeladen. Erst brunchen und danach zusammen feiern, in einem bekannten Berliner Club, so der Plan. Woraufhin sie zu bedenken gab, in dem Club sei der Besuch nur unter der 2G-Regel gestattet.
Dies würde bedauert werden, wurde ihr geantwortet, aber dann könne sie ja zumindest zum Brunch kommen und anschließend gehe man getrennter Wege.
Die Freundin beklagte, sie fühle sich diskriminiert, ausgegrenzt, wütend und alleingelassen. Sie vermisse die Loyalität ihrer Freunde. Eine nachvollziehbare Reaktion. Sie hätte sich gewünscht, gemeinsam etwas zu unternehmen.
Gesellschaftliche Segregation
Diese Segregationsmechanismen gibt es nun nicht erst seit 2G. Auch schon vor der Verfügbarkeit der Impfung wurde zunehmender Druck auf die Menschen aufgebaut, sich zu fügen. Über bizarre Loyalitätsrituale, wie dem Tragen einer “medizinischen Maske”, dem ständigen Desinfizieren der Hände, der Begrüßung per Faust, dem Abstand halten, dem andauernden Testen u.v.m. wurde Gruppendruck aufgebaut. Mit der Zeit sind immer mehr Menschen unter diesem Konformitätsdruck eingeknickt. Sie vollführen nun täglich Handlungen, die oft keinen Sinn ergeben.
Hier müssen wir einen kleinen massenpsychologischen Einschub vornehmen. Die Handlungen sind längst zum Automatismus geworden und werden nicht bei jeder Wiederholung der Kritik der Vernunft unterworfen. Trotzdem merkt das Individuum wenigstens unbewusst die Widersprüche in den Handlungen. Es versucht dem kognitiven Chaos der Irrationalität und dem psychologischen Trauma, dem es ausgesetzt ist, einen Sinn zu geben. In dieser Phase der Unsicherheit ist das Individuum sensitiver für äußere Einflüsse. Psychologen nennen diese Beeinflussbarkeit “Suggestibilität”. Die Suggestibilität der Person wird durch das Trauma erhöht. In seiner Hilflosigkeit sehnt sich das Individuum nach Sicherheit und bekannten Autoritäten, die den Prozess lenken und damit für eine mentale Entlastung sorgen.
Ungern erinnern wir uns an das „Panik-Papier“ für das Innenministerium zurück, in dem es heißt:
Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.
Zurück zum Gruppendruck. Dieser wirkt nicht nur im beschriebenen Beispiel, sondern in jeglicher sozialen Beziehung: Freunde grenzen Freunde von Geburtstagen und gemeinsamen Aktivitäten aus, Angehörige und Freunde werden auf Familienfeiern oder Hochzeiten ausgegrenzt, Angestellte grenzen andere Angestellte aus und jetzt grenzen Clubs Ungeimpfte aus. Das Prinzip bleibt identisch und dürfte inzwischen vielen Lesern bekannt vorkommen. Der Autor selbst hat zwei Hochzeitseinladungen ausschlagen müssen.
2G in Berliner Clubs
Nachdem das Berliner Verwaltungsgericht das generelle Tanzverbot gekippt hatte, beschloss der Senat eine Senatsverordnung, wonach “Tanzlustbarkeiten” seit September wieder öffnen dürfen. Die Vorlage kam von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci. Zutritt also nur für Geimpfte und Genesene.
In allen großen Berliner Clubs werden nunmehr digitale Impfzertifikate akzeptiert und dies wird auch ohne Ausnahme durchgesetzt.
Wer in einen Berliner Club gehen möchte, der wird also an der Tür gescannt und dessen Personalien werden überprüft.
Der Covid-Pass als Passierschein. Der Einsatz von Passierscheinen ist in offenen Gesellschaften eine Entgleisung. Passierscheine kommen dafür immer wieder in totalitären Systemen zum Einsatz.
Finanzielle Erpressung der Clubs?
Man möchte meinen, die Berliner Clubszene hätte es durch die Lockdowns besonders hart getroffen. Allerdings ist das große Clubsterben ausgeblieben. Die Clubs kassierten während der Zwangsschließung scheinbar ausreichend Hilfszahlungen. Alle Clubs sind noch immer im Geschäft; was man von so mancher Bäckerei oder manchem Restaurant nicht behaupten kann.
Die Clubs wurden also über 18 Monate mit Steuergeldern am Leben erhalten. Nun die Erlaubnis zur Wiedereröffnung. Sind die Clubs in der Zwickmühle? Wer jetzt aufgrund der Ablehnung der diskriminierenden 2G-Regelung geschlossen bleibt, riskiert womöglich, im nächsten Lockdown keine Hilfsgelder zu bekommen. Also entweder geschlossen bleiben und pleite gehen oder aber die Segregation nach Impfstatus unter 2G?
Diese Überlegung könnte für einige Clubs durchaus Relevanz haben.
Die Anfrage bei der Clubcommission Berlin, ob es hinsichtlich der 2G-Praxis Bedenken gebe, wird bejaht. Hier die Antwort auf die Frage:
“Wir haben alle Bedenken, wenn wir ca. 8-12% unserer Community ausschließen müssen, die weder geimpft oder genesen sind. Die Frage ist, wann geben wir wieder jedem seine Selbstbestimmung zurück. Risiken einzugehen, so wie wir auch an Silvester oder im Wintersport individuelle Risikobereitschaft als Gesellschaft tolerieren. Wir sehen die 2G- Regel nach Abwägungen gerade als unverhältnismäßig an – solange kein epidemischer Notstand besteht (z. B. volle Krankenhäuser) plädieren wir dafür, dass man auch Getesteten Zugang gewährt.”
Die Clubs würden also lieber 3G durchführen, müssen aber nach der Senatsverordnung 2G anwenden. Ebenfalls interessant ist die Angabe des Prozentsatzes der Ausgeschlossenen mit 8-12%.
Hinweise, dass die 2G-Regelung ohnehin nicht funktioniert, liefern Meldungen aus Münster und aus Berlin. Dort kam es auch unter Einhaltung von 2G zu einer Vielzahl von “Infektionen”. In beiden Fällen gab es lediglich milde oder gar keine Symptome. Eine preprint Studie legt sogar nahe, dass bei der Delta-Variante von Geimpften eine höhere Ansteckung und Viruslast ausgeht. Darüber wurde auch bereits im Spiegel berichtet. Allein das müsste reichen, um die Absurdität von 2G für jedermann offensichtlich werden zu lassen.
Bei einer Party im Berghain ist es inzwischen erneut zu Corona-Infektionen gekommen. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, wurden bei der Nachverfolgung nun auch noch die E-Mail-Adressen der Gäste veröffentlicht.
Feiern unter Geimpften
Aber auch wie im Falle meiner Freundin diskriminieren die Menschen sich zusätzlich gegenseitig. Wer in einen Club geht, der nur Geimpfte und Genesene reinlässt, der entscheidet sich implizit dazu, diese Ausgrenzung zu akzeptieren und auf das Beisein der ungeimpften Menschen zu verzichten. Natürlich wurden auch vorher schon Menschen vom Türsteher ausgeschlossen, aber nun ist der Grund ein biologisches Merkmal einer Person – die „Impfung“.
Bei Wiedereröffnung des Berghains kam es zu einer Protestaktion, die diese unmögliche Regelung thematisierte:
#Berghain #FreieLinke #Impfapartheid pic.twitter.com/hfUvnPHSKa
— Felix Perrefort (@FPerrefort) October 6, 2021
Clubs waren immer Orte, în denen gerade nicht nach körperlichen Merkmalen differenziert wurde. Alle Menschen waren willkommen: Yuppies, Hippies, Freaks, Alkoholiker, Bodybuilder, Emos, Kluge, Dumme, Dicke, Dünne, Tussis, Behinderte, Drogensüchtige, Schwule usw. Hautfarbe, Aussehen, Kleidung: alles egal. Einzige Voraussetzung war die Akzeptanz der anderen und die Übereinkunft in Ruhe und Freude miteinander hier und jetzt Zeit zu verbringen. Jeder durfte so sein, wie er nun einmal ist. Und manchmal gelang es wirklich, die sprichwörtliche Maske fallen zu lassen und der eigenen sowie der Persönlichkeit der anderen Menschen etwas näher zu kommen.
Wie groß ist die Fähigkeit zur Verdrängung des Umstandes, dass ein beträchtlicher Anteil an Menschen ausgeschlossen und damit marginalisiert wird?
Inklusion scheint wohl auf einmal doch nicht mehr so wichtig zu sein, wie man es sonst gerade aus links-alternativen Kreisen gewohnt ist. Oftmals können sich benachteiligte Gruppen gar nicht vor linken Aktivisten retten, die in ihrem identitätspolitischen Verve wieder einmal die Anwaltschaft für Gruppen ergreifen, die gar nicht um Hilfe gebeten haben.
Frauen haben das Recht auf Abtreibung. “My body my choice”, so der bekannte Slogan. Aber bei der Entscheidung, sich eine experimentelle “Impfung” spritzen zu lassen, gilt das nicht. Da die „Impfung“ nur Selbstschutz ist, da die Viruslast wie oben bemerkt – ob geimpft oder ungeimpft – identisch ist, kann der Vorwurf der Solidaritätsverweigerung nicht gelten.
Aus “Leave no one behind” wird “Leave no one vaccinated behind”.
Das trägt den so oft betonten solidarischen Leitgedanken der Clubszene auf den doppelmoralistischen Gipfel.
Problembewusstsein? Fehlanzeige
Der Autor plaudert jetzt mal aus dem Nähkästchen. Anekdotische Evidenz. Vor ein paar Wochen hatte er das Vergnügen, neben einem der bekanntesten Berliner DJs das Pissoir zu nutzen. Der DJ steht bei einem der größten Berliner Labels unter Vertrag und ist eine Szene-Größe, die jeden Club nur ausverkauft zu sehen bekommt. Er wurde dann mit der Frage konfrontiert, wie er denn dazu stehe, so viele Menschen von der Feier auszuschließen. Ob das für ihn ein Problem sei.
Die Antwort war vorprogrammiert: “Hätten sich ja impfen lassen können, dann wären sie dabei.” Auf die Erwiderung, es gehe niemanden etwas an, ob und aus welchen Gründen man sich impfen lässt oder nicht, und es nicht korrekt sei, überhaupt den Impfstatus zu prüfen, kam keine Antwort mehr. Er wolle jetzt endlich mal wieder befreit feiern, in Ruhe gelassen werden, und hätte keine Möglichkeit, jetzt über meine Fragen nachzudenken.
Vermutlich wird hier das Mindset der Clubszene passend skizziert.
Gruppendruck auf Gen Y und Z
Für viele junge Menschen dürfte die Einschränkung, nicht am Nachtleben teilnehmen zu können, ein gewaltiges Druckmittel sein, um diese Bevölkerungsgruppe doch noch von der rettenden “Impfung” überzeugen zu können.
Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich erklärt den Mechanismus des Gruppendrucks so:
Der drohende Verlust des Gruppenkontaktes ist ein erschreckendes Erlebnis und löst panische Angst und jede erdenkliche Anstrengung aus, die Übereinstimmung wiederzufinden – nur nicht die zu einer besonnenen Kontrolle der Lage …. Die mittelalterliche Strafe der Ächtung zeigt, dass die Gefahr, die dem individuum bei Verlust der Gruppenzugehörigkeit droht, Tod heisst. Und das wissen selbstverständlich diejenigen, die die große Menge zu manipulieren verstehen, genau.
In Österreich hat sich die Regierung dazu entschieden, eine Kampagne zu fahren, die den perfiden Mechanismus des Ostrazismus nicht besser veranschaulichen könnte.
Es geht übrigens auch anders. Der Veranstalter der Dresdner Jazztage, Killian Forster, äußert zur Auflage, die Veranstaltung nur unter 2G abhalten zu können: „Sollte dies Realität werden, bedeutet das für uns als Veranstalter, dass wir genötigt werden, zu diskriminieren. Hier ist Schluss! Wir machen da nicht mit.“
So spricht wohl jemand, der seine Prinzipien noch nicht über Bord geworfen hat.
Der eingangs zitierte Songtext gehört zu einem Lied aus dem Jahr 2002, das jedem, der seine Zeit auf Parties in den 2000ern (und bestimmt auch danach) verbrachte, bekannt vorkommen wird. Vielleicht sollte sich die den 2G-Regeln unterworfene Clubszene den Text nochmal ganz genau anhören.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Mario Martin ist Ökonom und arbeitet als Software-Projektmanager in Berlin.
Bild: Mario MartinText: Gast