Das Gespräch kam durch Zufall zustande. Nach der Bundespressekonferenz ging ich noch kurz in den Bundestag. Dort wurde ich von einem Abgeordneten erkannt. Nach einem kurzen Gespräch lud er mich in sein Büro ein. Aus Gründen der Diskretion sei hier weder sein/ihr Geschlecht genannt, noch seine Partei. Nur so viel: Er/sie sitzt für eine der drei Regierungsparteien im Bundestag. Und er hadert mit der Corona-Politik. Sogar heftig. Und er sagt, dass dies nicht nur ihm so geht. Zahlreiche Abgeordnete, auch in Regierungsparteien, aber selbst bei Grünen und Linken, teilen diese Kritik. „Bei uns brechen komplett die parteipolitischen Grenzen weg, ich teile den Bundestag nur noch auf in Personen, die pragmatisch in der Corona-Krise sind oder die zum Daueralarmismus neigen.“
Am Mittwoch werde er ganz entschieden gegen das „Dritte Corona-Gesetz“ stimmen, sagt der Regierungsabgeordnete (m/w/d): „Was für mich am entscheidendsten ist, dass dieses Corona-Gesetz nicht nur für die jetzige Regierung, die auf dem Boden des Grundgesetzes steht, sondern auch für künftige Regierungen gelten wird, bei denen das nicht so sicher ist. Ich habe aber auch bei einer demokratischen Regierung allergrößte Bauchschmerzen, wenn sie solche Vollmachten bekommt und das Parlament eingeschränkt wird in seiner Kontrollfunktion.“ Wenn man Grund- und Freiheitsrechte über einen so langen Zeitraum einschränke, sei es unabdingbar, dass hier ständig das Parlament die Regierung kontrolliert: „Es kann nicht angehen, dass hier die Exekutive dauerhaft alleine entscheidet. Die Geschichte zeigt uns, dass eine solche Machtfülle für eine Regierung noch nie gutgegangen ist.“
15 Prozent Abweichler
Auf die Frage, wie viele Abgeordnete so wie er denken, antwortete das langjährige und bekannte Parlamentsmitglied: „Ich schätze, innerhalb meiner Fraktion denken nach meinem Eindruck etwa fünfzehn Prozent so wie ich. Ob die allerdings gegen das Gesetz stimmen, bezweifle ich. Es ist eine namentliche Abstimmung und viele haben Angst, sich öffentlich als Abweichler zu outen. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Gesetz durchgeht, zumal ja auch die Grünen mit großer Mehrheit dafür stimmen werden, zumindest sehe ich das so.“
„Ich sehe die Krankheit als ernsthaft an und halte es auch wirklich für geboten, gefährdete Personenkreise zu schützen“, sagt das politische Urgestein: „Aber die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden. Und das sehe ich nicht. Man wird nur dann dauerhaft für die Maßnahmen in der Bevölkerung eine Akzeptanz erhalten, wenn man jede einzelne auch plausibel erklärt. Das ist definitiv nicht bei jeder Maßnahme gegeben, und das fehlt mir.“
„Ich habe festgestellt, dass eine Eigendynamik in Gang gesetzt worden ist, der man zum Teil heute nicht mehr Herr wird, wenn man denn glaubhaft bleiben möchte“, so der Abgeordnete: „Man hat als Instrument die Angst genutzt, um die Menschen zu sensibilisieren und um eine Akzeptanz für die angeordneten Maßnahmen zu erhalten. Das hat sich verselbständigt. Was dazu führt, dass nun eine große Erwartungshaltung in Richtung strenger Maßnahmen bei vielen Journalisten und Bürgerinnen und Bürgern entstanden ist, die die Politik nicht einfach so ignorieren kann. Wenn sich, was ich sehr hoffe, aber was wir alle natürlich heute nicht wissen, das Virus als nicht ganz so gefährlich herausstellt, wie angenommen wird – und dafür gibt es sogar Anhaltspunkte, die der Regierung bekannt sind, kommen wir in eine schreckliche politische Zwickmühle. Stellen Sie sich mal vor, was los wäre, wenn die heutigen Kritiker in Teilen recht hätten. Das wäre ein politisches Erdbeben, das für unsere Demokratie sehr gefährlich wäre. Diese Gefahr muss offen diskutiert und ausgesprochen werden, auch in den Medien. Da sehe ich das aber im Moment nicht.“
Regierung zu einseitig bei Experten
Er sei regelrecht entsetzt, sagt der Abgeordnete sehr emotional, dass die Regierung nur auf bestimmte Experten höre. Das wisse er aus erster Hand: „Für Entscheidungen von solch einer Tragweite muss man aber immer Sichtweisen von unterschiedlichen Wissenschaftlern anhören. Ich sage nicht, dass die heftigen Kritiker der Maßnahmen Recht haben, ich kann das als medizinischer Laie nämlich nicht beurteilen, aber als Abgeordneter kann ich sagen: Ich will, dass auch sie zu Wort kommen und man sich mit ihren Argumenten auseinandersetzt. Das müsste eigentlich zur Selbstverständlichkeit in einer Demokratie gehören.“
Dass ich das Gespräch anonym bringe, war mein Vorschlag: Nur unter dieser Voraussetzung konnte der Abgeordnete wirklich Tacheles reden. Weil ich diesen Beitrag für sehr wichtig halte, stelle ich ihn direkt aus dem Bundestag online. Lesen Sie hier auch die unglaublichen Interna, die mir ein Mitarbeiter eines anderen Abgeordneten erzählte, nachdem er diesen Bericht gelesen hat – „Abstimmung im Blindflug – ‘Faktisch wird der Bundestag nur noch gebraucht, um Demokratie zu spielen.“
Bild: Boris Reitschuster
Text: br