Leipzig-Demo: Parallel-Realität in der Bundespressekonferenz Seibert: "Extremisten, Chaoten, gewaltbereite Menschen"

Von welcher Demonstration sprechen die Kollegen hier überhaupt, fragte ich mich heute auf der Bundespressekonferenz immer wieder, als die Journalistinnen und Journalisten von den großen Medien ihre Fragen stellten. Das klang so, als hätte da am Samstag in der sächsischen Stadt eine Bande Rechtsextremer ihr Unwesen getrieben, und die Polizei vor ihnen kapituliert. Der gefühlte Tenor der Fragen an die Regierung: Was kann man tun, um solche Demos in Zukunft zu unterbinden? Und wie kann die Polizei heftiger vorgehen gegen die Demonstranten?

Hätte mir vor 25 Jahren, als ich das journalistische Handwerk erlernte, jemand vorhergesagt, ich würde einmal erleben, dass Journalisten (sowie Grüne und Sozialdemokraten) auf mehr Härte der Polizei drängen und der Regierung – in diesem Fall der Sächsischen – vorwerfen, sie sei zu friedlich und deeskalierend gegenüber Demonstranten, ja dass Journalisten faktisch Einschränkungen des Versammlungsrechts fordern – ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aus den Fragen entstand für mich der Eindruck, dass kaum einer der Kollegen selbst in Leipzig war und sich mit eigenen Augen ein Bild gemacht hat. Das kam etwa durch Fragen nach der „zunehmenden Aggressivität“ zum Ausdruck. 

Offenbar haben viele Kollegen einfach das Framing aus anderen Medien übernommen. Und etwa das ZDF angeschaut. Der Bericht dort heute im Mittagsmagazin stellte das auf den Kopf, was ich in Leipzig gesehen habe. Die Anmoderation: „Nach dem Chaos und den Ausschreitungen am Samstag bei Protesten von Corona-Leugnern und Rechtsextremen fordert Sachsens Linke den Rücktritt von CDU-Landesinnenminister Wöller. Tausende hatten ohne Maske demonstriert, und das, während deutschlandweit die Infektionszahlen steigen.“ Wie dreist! Was für eine Verleumdung! Kritiker der Corona-Maßnahmen als Leugner des Virus zu bezeichnen, ist schlicht Lüge. Ja Hetze. Und was für eine geschichtliche Ironie, dass die umbenannte SED den Rücktritt eines Ministers fordert, weil der eine Demonstration in Leipzig nicht niederknüppeln ließ. Weiter hieß es im ZDF: „Stundenlang, dicht an dicht, stehen die Corona-Leugner zusammen.“ 

Ausgerechnet der Sprecher des Innenministeriums, Steve Alter, rückte auf der Bundespressekonferenz das Zerrbild, das in vielen Fragen zum Ausdruck kam, zumindest ein wenig zurecht: Es handele sich bei den Demonstrationsteilnehmern um eine sehr heterogene Gruppe; Extremisten hätten versucht, die Proteste für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, aber obwohl diese zunehmend aktiv geworden seien, sei es ihnen nicht gelungen, die Proteste vollständig zu übernehmen. Auch das ist noch eine Verzerrung, aber wenigstens eine geringere als die ZDF-Schlagzeile „Corona-Leugner und Rechtsextreme“. Ja, es gab Rechtsextreme auf der Demonstration. Aber in sechs Stunden habe ich bis auf eine Situation, wo Gewalttäter möglicherweise der rechtsextremen Szene zuzuordnen waren, keine gesehen. Was zumindest nahe legt, dass sie alles andere als tonangebend waren.  

„In Leipzig wurde nun die Versammlungsfreiheit zum Teil gezielt ausgenutzt“, klagte Merkels Sprecher Steffen Seibert, so als ob das ein Vergehen sei und kein Grundrecht (siehe hier). Weiter sagte Seibert: „Am Ende haben Extremisten, Chaoten, gewaltbereite Menschen sich nach der Auflösung der Versammlung ihren Weg durch Leipzig bereitet.“ Bitte sehen Sie sich hier meine Aufnahmen vom Samstag an – und diejenigen, die Seibert als „Extremisten, Chaoten, gewaltbereite Menschen“ bezeichnet – hier und hier .

Sowohl Seibert als auch Seehofer-Sprecher Alter hatten darauf hingewiesen, dass die Teilnehmer in Leipzig die Vorschriften ignoriert hätten. Das bezog sich insbesondere auf die Maskenpflicht. Auf meine Frage, ob den Behörden Erkenntnisse vorlägen, wie viele Teilnehmer von der Maskenpflicht befreit wären, oder ob einfach pauschal eine Verletzung der Vorschriften unterstellt werde, antwortete Alter ausweichend. Offenbar liegen keine Erkenntnisse vor. Nachdem die Kollegen in ihren Fragen massive Behinderungen von Journalisten beklagten, berichtete ich von der einzigen Behinderung am Berichten, die ich erlebt habe – durch die Bundespolizei. Auch hier antwortete Alter ausweichend (siehe hier). Er meinte, das könne ja zum Schutz des Journalisten geschehen. Mit dieser Begründung könnte man die Presse regelmäßig aussperren. Vom konkreten Fall wollte Alter nichts wissen; die Frage, ob er ihm nachgehen werde, beantwortete er nicht. Hier können Sie die Szene sehen und beurteilen, ob ich in Gefahr war

Dem Wesen nach nicht beantwortet wurde meine Frage an das Gesundheitsministerium nach der Auskunft des Berliner Senats, wonach ein PCR-Test keine Erkenntnisse darüber liefere, ob ein Corona-Erreger vermehrbar oder infektiös sei (siehe hier). Dies ist aber laut Infektionsschutzgesetz Voraussetzung dafür, dass ein Erreger vorliegt. Die Aussage von Spahns Sprecher dazu habe ich mir mehrmals angehört, konnte dabei aber nicht verstehen, wie sie meine Frage beantworten könnte. Das Gesetz ist klar: § 2 Nr. 1 IfSG besagt, wenn der Erreger nicht vermehrungsfähig ist, ist er kein Krankheitserreger. Darauf geht der Sprecher nicht ein. Vielleicht können Sie, liebe Leserinnen und Leser, mir hier weiterhelfen und seine Antwort vor diesem Hintergrund erklären. Hier können Sie sie sich anhören. Auch mit einer Nachfrage biss ich erneut auf Granit. 

Zuvor war auch schon Steffen Seibert mir eine Antwort schuldig geblieben. Nachdem dieser – in meinen Augen völlig zu Recht – ausführlich den Mut der Menschen in Weißrussland lobte, die am Wochenende wieder auf die Straße gegangen waren, fragte ich ihn, wie er denn dazu stehe, dass die meisten von diesen Demonstranten keine Mund- und Nasenbedeckung trugen. Seibert vermied während meiner Fragestellung jeden Augenkontakt und blickte stattdessen lange in seine Unterlagen. Dann sagte er: „Lassen Sie uns die Situation in beiden Ländern, die grundsätzlich anders ist, auseinanderhalten. Ich habe gesagt, dass uns der Mut des belorussischen Volkes beeindruckt. In Deutschland haben wir eine grundsätzlich andere Situation, ich halte es nicht für sinnvoll, hier Verbindungen zu ziehen.“ (anzusehen hier). Da hat er Recht. Aber genauso gut hätte er zu Recht sagen können, dass das Wetter draußen schlecht ist. Auch wahr. Hat aber mit meiner Frage nichts zu tun. Deshalb fragte ich nach: „Ich ziehe keine Verbindungen, ich fragte nur, wie Sie es einschätzen, dass dort Mund- und Nasenschutz nicht getragen wird.“ Dazu Seibert: „Darüber können wir gerne im Zusammenhang mit Veranstaltungen in Deutschland sprechen.“ Punkt. Sodann blickte Merkels Sprecher gequält zur Seite. Der Moderator fragte: „Weitere Fragen dazu? Sehe ich nicht.“ Keiner der Kollegen wollte nachhaken.

Die Einladung Seiberts, „darüber können wir gerne im Zusammenhang mit Veranstaltungen in Deutschland sprechen“, nehme ich gerne an. Ich bin zu so einem Dialog mit Vergnügen bereit. Was Ort und Zeit eines solchen Gesprächs angeht, richte ich mich ganz nach ihm.

PS: Sehr interessant finde ich, dass nach meiner Wahrnehmung keiner der anwesenden Journalisten bei der Stellung seiner Frage die Maske abnahm – obwohl das zumindest seit meinem Artikel hier über die Ungleichbehandlung von Regierungssprechern und Journalisten offiziell für die Zeit des Redens gestattet ist. Ich finde, in einer Kommunikation ist Gleichwertigkeit wichtig, und dazu gehört, dass beide Seiten auch ihre Mimik einsetzen können. Der freiwillige Verzicht darauf von Seiten der Kollegen ist für mich offen gestanden nur schwer nachvollziehbar.

[themoneytizer id=“57085-1″]Hier meine Reportage von der Demo in Leipzig:
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Und hier meine Bilanz der Demo und der Berichterstattung im Livestream:
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Bild: Boris Reitschuster 
Text: br
 
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