Jagdszenen auf Moskaus Straßen CORONA-KONTRASTPROGRAMM

Es gibt wenig zum Lachen in diesen finsteren Corona-Zeiten. Darum will ich heute wieder etwas Gegengift anbieten. Gemischt mit etwas Nostalgie. Als ich vor rund zehn Jahren in Moskau diesen Text schrieb, hielt sich mein Heimweh nach Deutschland meist in überschaubaren Grenzen. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich zehn Jahre später in Deutschland „sitzen“ würde (und zwar im doppelten Sinne dieses Wortes), und Russland zu einem unerreichbaren Sehnsuchtsort der Freiheit für mich würde – ich hätte ihn für verrückt erklärt. Tauchen Sie mit mir in die Abenteuerlichkeiten des russischen Alltags ein – die ich heute so sehr vermisse. 

„Tu es nicht, dass ist doch blanker Selbstmord“, schreit mir Oleg hinterher. Doch er kann mich nicht mehr aufhalten. Aus dem Türrahmen habe ich noch einmal kurz nach oben geschaut, Richtung Dach, es war nichts zu sehen und nichts zu hören. „Jetzt oder nie“, sagte ich mir, atmete tief ein und rannte los. Das rettende Ziel war nur ein paar Meter weiter, in Sichtweite, hinter dem rot-weißen Absperrband. „Siehst du, ich bin heil und ganz, kein Treffer“, schrie ich zurück zu Oleg, der im Türrahmen wie erstarrt schien. „Ich?“ fragte er, und verzog seinen Vollbart in einen spitzen Winkel. „Jetzt“, schrie ich. Oleg fasste sich ein Herz, und mit der Geschmeidigkeit einer Gazelle, die ich ihm in Anbetracht seiner Jahre gar nicht zugetraut hätte, sprang er auf das Absperrband zu. Ein Mann in einer Uniform, die wohl irgendwann einmal braun gewesen war, mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt, kam auf uns zu: „Seid ihr verrückt?“

Vielleicht waren wir es. Zumindest ein bisschen. Bei der Jagdszene auf dem Kutusow-Prospekt, einer der nobelsten Meilen in Moskau, sind wir zwar ohne blaues Auge und vor allem mit heilem Kopf davongekommen. Doch sie war hochgefährlich, die Risikobereitschaft, die wir an den Tag gelegt hatten – im Kampf gegen einen der gefährlichsten Feinde, den die Menschheit in einem russischen Winter hat: Gegen Schneemassen und Eiszapfen, die von den Dächern auf den Gehweg fallen, und laut Medien jedes Jahr allein in der russischen Hauptstadt mehrere Menschen das Leben kosten.

Zwangspause im Café

Erfahrene Russen halten im Winter mit schlafwandlerischer Intuition den maximal möglichen Sicherheitsabstand von jeder Hauswand. So dreist, sich ohne größere Not in ein Gefahrengebiet zu begeben, können wohl nur Ausländer oder Journalisten sein. Dabei waren mein Kollege Oleg und ich nichtsahnend auf eine Tasse Tee und einen Kuchen in das Cafe „Schokoladniza“ gegangen. Kaum wollten wir uns zurück an unser Tagwerk machen, gab uns die Bedienung einen gutgemeinten Rat: „Sie dürfen jetzt nicht raus aus dem Café, weil das Dach oben vom Schnee gesäubert wird, der Gehsteig ist gesperrt.“ In Russland gewöhnt man sich ans Warten, und so waren wir auch völlig ruhig und gelassen, bis wir eine weitere Teekanne geleert hatten.

Oleg, ein Mensch mit stoischer Ruhe, hätte sicher ohne zu klagen noch weiter gewartet und sich hinter die nächste Teekanne geklemmt. Aber der Deutsche in mir, der auch nach 13 Jahren in Russland noch oft im Kopf ans Ruder greift, ließ mir keine Ruhe: „Ich muss los, ich komme sonst zu spät zu meinem Termin.“ Ich ging zur Tür, und lauerte vor ihr wie ein Tiger vor der Durchreiche im Käfig zur Fütterungszeit. Immer wieder waren Einschläge zu hören: Ein donnerndes Knirschen des Schnees beim Aufschlag auf den Asphalt, ein klirrendes Scheppern der Eiszapfen. Wenn sekundenlang Ruhe herrschte, streckte ich vorsichtig, Millimeter für Millimeter, meinen Kopf aus dem Türrahmen, um ihn beim nächsten Einschlag sofort wieder zurückzuziehen. Die Bedienungen ein paar Meter weiter an der Kasse machten keinerlei Anstalten, mich aufzuhalten. Sie tuschelten angeregt miteinander. Vielleicht schlossen sie Wetten ab, auf meine Unversehrtheit.

Innige Beziehung zum Eiszapfen

Gewonnen hätten die Optimistischeren. Als ich nach einer Minute Ruhe sprang, mussten die Männer auf dem Dach wohl gerade ihre Zigarettenpause eingelegt haben. Nicht alle haben so viel Glück. Nicht, dass es Volkssport in Russland wäre, bei Eis- und Schnee-Räumarbeiten auf dem Dach durch die Gefahrenzone zu springen. Das Problem ist eher ein anderes: Zu wenig Dächer werden geräumt. Und so kommt der Angriff vom Dach meist unerwartet und hinterhältig.

Und das, obwohl die Russen historisch eine durchaus innige Beziehung zum Eiszapfen haben. In russischen Gedichten wird er gepriesen, er galt lange als Süßigkeit der Armen, Eis-Ersatz für Bauernkinder, die sich nichts Kalorienreicheres leisten konnten. Wer hätte auch ahnen können, dass die ansehnlichen Zapfen einst als Folge der modernen Städtearchitektur zum Feind des Menschen werden sollten. Dabei heißt es in Russland, dass die Beziehung zwischen Mensch und Eiszapfen bis zur Revolution noch durchaus entspannt war: Die Hausmeister waren zuständig dafür, auf dem Dach für Eisfreiheit zu sorgen, und wehe, einer tat das nicht. Heutzutage betreut ein einziger Hausmeister oft mehrere Häuser, und statt kräftiger Männern sind heute eher Frauen im Rentenalter im Dienst, deren Einsatz auf dem Dach nicht minder gefährlich wäre als die latente Gefahr durch Eiszapfen. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Häuser entweder gar keine, oder aber beheizte Dachböden haben, was, so die Fachleute, die Zapfenbildung fördert.

Wenn warme Winde Moskau auftauen lassen wie in diesen Tagen, herrscht deshalb Alarmstufe rot. Beinahe akrobatische Fähigkeiten sind angesagt, wenn man etwa auf dem Weg zur Arbeit durch den Nachbarhof muss, wo meterbreite Sperren mit dem Warnhinweis „Eisabgang“ stehen, die nur einen ellenbreiten Spalt auf dem Gehweg frei lassen. Wenn man hier auf Gegenverkehr trifft, muss mindestens einer in den roten Bereich – und russisches Eiszapfen-Roulette spielen.

Dabei schlägt das Schicksal ausgerechnet dort zu, wo man es gar nicht erwarten würde. Im konkreten Fall an der Uhrenfabrik eine Straße weiter, die ich aufgrund des breiten Gehsteigs vor ihren Mauern und des Flachdachs bislang stets für unverdächtig hielt. So schreckte ich denn auch entsetzt zusammen, als mir plötzlich etwas von oben auf Kopf und Schulter schlug. Ich dachte bereits an das Schlimmste und war gerade dabei, mir die Schlüsselmomente meines Lebens noch einmal zu vergegenwärtigen. Doch als ich mich aus der ersten Starre befreite, entpuppte sich das vermeintliche Schneebrett Gott sei Dank nur als Schneewölkchen. Ich war zwar verschneit wie ein Weihnachtsplätzchen unter Puderzucker, doch bis auf die Nässe völlig unversehrt.

‘Tojtojtoj‘

Ich bin nun sehr viel vorsichtiger geworden seit diesem bislang einzigen (nach russischer Tradition klopfe ich an dieser Stelle dreimal auf Holz und sage „tojtojtoj“) Treffer, den ich abbekam. Eile hin oder her, freiwillig würde ich mich nie mehr in ein städtisches Lawinengebiet begeben wie früher. Ich blicke nun regelmäßig nach oben; mein Kopf arbeitet wie ein Navigationsgerät, immer auf Routensuche.

Doch wie alles, was von oben kommt, hat auch die Dachlawinen-Gefahr ihr Gutes: Das Balancieren und Hüpfen hält einen körperlich fit. Man muss fast die mathematischen Fähigkeiten eines Andrei Kolmogorows und die Konzentration eines Anatoli Karpows an den Tag legen, um instinktiv die risikoärmsten und trockensten Sinuskurven zu finden zwischen der Gefahr, in karpfenteichtiefe Pfützen zu treten, auf der einen Seite des Trottoirs durch Autos unfreiwillig geduscht zu werden oder auf der anderen Seite vom Dach gefährliche Fracht auf das selbige zu bekommen. Die ständige Konzentration und das Lösen schwieriger mathematischer Aufgaben beim Navigieren hilft, so jedenfalls legt die aktuelle Hirnforschung nahe, geistig rege zu bleiben. Kein Wunder, dass die Russen zu den besten Mathematikern der Welt gehören.

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Bilder: streko3a/Maximumm/Shutterstock
Text: br
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