Wieder ein öffentliches Zerwürfnis unter Russlands Exil-Opposition. Die einen schreien, die anderen gehen. Ich will Ihnen – und mir – die Details ersparen. Nur so viel: Bei einem Abendessen vor einem Treffen mit der Leitung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) in Paris kam es zum Eklat. Ein bekannter Oppositionspolitiker, Wladimir Kara-Murza, verließ demonstrativ das Antikriegs-Komitee (АК), weil der Kreml-Kritiker und Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow ihn bei dem Dinner in Paris massiv beleidigte.
Hintergrund: Kara-Murza hat die sogenannte „Berliner Erklärung“ nicht unterzeichnet – ein Dokument, das als Lackmustest für die PACE-Mitgliedschaft der russischen Exil-Opposition fungieren soll – wegen der Kernthese: „Die Krim gehört zur Ukraine“. Kasparow schrie Kara-Murza an, beschimpfte ihn als Verräter, warf ihm vor, keine klare Haltung zu haben, und brüstete sich, ihn aus dem Gefängnis „rausgeholt“ zu haben. Es wurde gestritten, wer länger im Gefängnis saß. Alles eskalierte. Wie so oft.
Ich kenne alle Beteiligten persönlich. Und so ein Streit – der leider eher Regel ist als Ausnahme – tut mir im Herzen weh. Er ist – wieder einmal – eine Steilvorlage für den Kreml. Zurück bleibt der Eindruck: Es ist wie bei einer Käseplatte unter einer Glasglocke, ohne Frischluftzufuhr: Jeder Käse für sich kann noch so edel sein – ohne Sauerstoffzufuhr kommt es zu unschönen Prozessen. Und Sauerstoffzufuhr ist in diesem Fall die Teilnahme an offenen und ehrlichen politischen Prozessen wie Parlamentsdebatten und Wahlen, eine offene Debatte in freien Medien.
Und als ich über all das – traurig – nachdachte, kam mir der Gedanke: Leider erleben wir in Deutschland ähnliche Prozesse. Sowohl in der Politik als auch in der sogenannten alternativen Szene. Auch dort: dieselbe Mischung aus Geltungsdrang, Opferkult, innerer Zersetzung und Selbstverklärung. Auch dort: kaum Frischluft, viel gekränkter Käse.
Und nur wegen dieser Parallelen schreibe ich diesen Text: Weil ich glaube, es ist sehr wichtig und lehrreich, sie zu erkennen.
Ich will niemanden bloßstellen – Gott bewahre. Aber ich muss – auch wenn ich es nicht will – benennen, was offensichtlich ist, und zunehmend unerträglich wird: Auch in der sogenannten Gegenöffentlichkeit, in Teilen der alternativen Szene in Deutschland, finden sich dieselben destruktiven Dynamiken wie bei der russischen Exilopposition. Und das ist mehr als ein ärgerliches Detail. Es ist ein strukturelles Problem.
Statt gemeinsamer Zielsetzung regiert allzu oft gekränkte Eitelkeit. Man spricht nicht miteinander, sondern übereinander. Wer nicht mindestens dreimal täglich den Systemsturz beschwört oder die richtigen Begriffe in der richtigen Reihenfolge verwendet, wird schnell zur persona non grata. Die Szene grenzt aus, was nicht zur eigenen Selbstvergewisserung passt. Und jeder kleine Erfolg eines anderen wird eher misstrauisch beäugt als unterstützt. Man hat oft den Eindruck: Noch ablehnender als Rot-Grün steht manch einer denen gegenüber, die eigentlich die natürlichen Verbündeten wären. Kooperation? Wenn überhaupt, dann auf Zeit – oder auf Rechnung.
Ausgerechnet jene, die sich „für Meinungsfreiheit“ stark machen, verfallen in eigenes Lagerdenken. Wer Israel verteidigt, ist verdächtig. Wer Putin klar kritisiert, gilt manchen als Westknecht – oder gar „Nato-Hure“. Wer innerlich nicht zu 100 Prozent auf Linie ist, muss früher oder später damit rechnen, von den eigenen Leuten auf der Straße liegengelassen zu werden. Dabei war die ursprüngliche Idee dieser Szene doch gerade, sich vom tribalistischen Freund-Feind-Denken der etablierten Politik abzusetzen. Heute sind manche dabei schlimmer als die, die sie kritisieren.
Besonders auffällig ist das ritualisierte Schweigen bei bestimmten Themen. Wenn schrille, aber liebenswerte Figuren wie der als „Pianist“ bekannt gewordene Corona-Kritiker Arne Schmitt ins Gefängnis kommen, aus haarsträubenden Gründen? Peinliche Funkstille. Putin? Abwiegeln, Schönreden, Täter-Opfer-Umkehr. Israel? Entweder Flucht in Nebelbegriffe – oder, leider gar nicht so selten, jene Form der Feindseligkeit, die vorgibt, den Staat zu kritisieren, aber am Ende doch das Volk trifft. Die Szene, die sich einst auf die Fahnen schrieb, die Dinge zu sagen, „die man nicht sagen darf“, macht plötzlich auffällig oft Männchen. Oder sagt einfach gar nichts. Wenn es unbequem wird. Wenn es intern weh tun könnte. Wenn es etwas kosten würde.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich finde es völlig okay, wenn jemand die Ukraine und den Westen kritisiert, oder Israel. Nicht nur okay, sondern nötig. Aber wenn umgekehrt Kritik an Putin oder Kritik an den Palästinensern zu Beschimpfungen führt und als Verrat gewertet wird, dann ist das fatal.
Und das ist das eigentliche Problem. Nicht, dass Menschen unterschiedlich ticken. Nicht, dass man sich mal irrt oder überzieht. Sondern dass Kritik nicht mehr als Teil eines Diskurses verstanden wird – sondern als Angriff. Als Majestätsbeleidigung. Wer sich nicht einreiht ins Pathos, wer Differenzierung wagt, wird abgestraft. Und wer zu viel fragt, steht schnell alleine da. Das ist der Punkt, an dem eine Bewegung aufhört, Bewegung zu sein – und zur Sekte wird.
Viele dieser Prozesse sind nicht bösartig. Aber sie sind toxisch. Und sie erinnern mich erschreckend genau an das, was ich bei der russischen Opposition viele Jahre hautnah erlebt habe und auch jetzt wieder sehe: dieselbe Vergiftung von innen. Dieselbe Mischung aus Geltungsdrang, Opferkult und Realitätsverweigerung. Dieselbe Weigerung, Kritik auszuhalten, weil man sich längst für die letzte Bastion der Wahrheit hält.
Ich war diesen Kreisen selbst sehr nahe, oft näher, als ich es im Rückblick für journalistisch klug halte – in Russland und auch hier. Ich weiß, wie das funktioniert. Und ich bin heilfroh, dass ich heute mehr Abstand habe. Denn wenn ich eines gelernt habe, dann das: Man kann das System kritisieren, ohne Teil eines neuen zu werden, das genauso eng, rechthaberisch und selbstgefällig ist wie das alte.
Denn ganz ehrlich: Ich habe den Eindruck, vielen geht es mehr um Auftritt als um die Sache (deswegen nehme ich mich selbst inzwischen auch so zurück – keine Interviews, keine Auftritte, nur noch ganz wenige Videos). Aktivismus wird zur Bühne, Empörung zur Geschäftsgrundlage. Manche inszenieren sich fast professionell als Helden im Dauerfeuer, kombiniert mit Spenden-Kampagnen. Spenden zu sammeln ist legitim – ich tue es auch. Freie Journalisten können ihre Arbeit nur so finanzieren. Aber wenn es zum Selbstzweck wird – mit täglichem Alarmismus, Opferkult und Dauer-Pathos –, dann hat das weniger mit Aufklärung zu tun als mit Selbstvermarktung.
Ich kenne einige dieser Leute persönlich. Und ich sehe, wie sehr sich das Ich vordrängelt vor das Wir. Wie aus Kritik Ego wird. Und wie aus Haltung Selbstvermarktung. Alles wird zur Bühne – aber niemand räumt sie auf. Was bleibt? Eine bittere Erkenntnis – und ein klarer Schluss: Die wahre Alternative beginnt dort, wo das Ego endet. Und der echte Widerstand beginnt nicht mit dem hundertsten Aufruf, sondern mit einem ehrlichen Blick in den Spiegel. Den man zumindest versuchen sollte. Auch wenn er oft – so selbstkritisch muss ich sein – schwer fällt.
Vielleicht ist das die schwerste Übung für viele, die heute das System bekämpfen: den Feind nicht nur im Außen zu suchen, sondern im eigenen Verhalten. Im eigenen Geltungsbedürfnis. In der eigenen Selbstgerechtigkeit. In der Art, wie man mit Kritik umgeht – oder lieber gar nicht.
Und in der Verlogenheit, mit der mancher Kollege seine Positionen in der Russland- oder Israel-Frage verdreht, relativiert oder gleich ganz verschweigt – nicht, weil er überzeugt wäre, sondern weil er Angst hat, anzuecken. Oder Angst, Follower und Spenden zu verlieren. Oder einfach, weil es bequemer ist, bei den vermeintlich Guten im Warmen zu sitzen, statt sich zu einer unbequemen Wahrheit zu bekennen.
Ich nehme mich da nicht grundsätzlich aus. Nur so viel: Auch ich kenne die Versuchung, etwas nicht zu schreiben – aus taktischen Gründen, aus Rücksicht, manchmal auch aus Müdigkeit. Und es erschreckt mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich mich bei diesem Gedanken ertappe. Weil ich genau weiß, wie schnell daraus ein System wird. Und wie still es dann wird.
Aber genau da beginnt Aufrichtigkeit. Nicht im Dauerfeuer. Sondern im Aushalten.
Denn eine Käseplatte ohne Frischluft wird nie ein Menü der Freiheit. Sie bleibt, was sie ist: faulig – und ungenießbar.
PS: Mehr dazu vielleicht bald – in einem Text, an dem ich wochenlang gearbeitet habe. Und den ich bislang nicht veröffentlicht habe, weil er weh tut. Ohne Namen – aber mit Beispielen. Solchen, die einem die Luft zum Atmen nehmen. Und die eigentlich nicht mehr verschwiegen werden dürfen – auch wenn sie, leider, leider eine Steilvorlage für die Feinde der alternativen Medien sind. Weil sie – um im Bild der Käseplatte zu bleiben – gar zu unappetitlich sind.
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