Lothar Wielers famose Phantastereien der bundesweiten Inzidenz-Zahlen Höhere Mathematik auf neudeutsch

Ein Gastbeitrag von Aaron Clark

Wer sich wie ich am Vormittag des 29.01.2021 die Zeit nehmen konnte, die Bundespressekonferenz anzuschauen – weil er möglicherweise gegen seinen Willen zur Heimarbeit verdammt wurde (Verzeihung, das ist eine ältere Bezeichnung für Home-Office), seinen Job durch die Corona-Politik gleich ganz verloren hat und/oder zusätzlich noch die quengelnden Blagen bespaßen muss – der hatte möglicherweise einige Mühe, bis zu Herrn Reitschusters Frage überhaupt wach zu bleiben. Normalerweise höre ich persönlich gerne die Drei Fragezeichen, wenn ich einmal nicht einschlafen kann, aber seit heute habe ich eine neue Favoritin: Marylyn Addo! Die Inbrunst, mit der diese Frau uns heute nochmal die Geschichte der Impfstoffentwicklung dargeboten hat, erinnerte mich an die TV-Präsenz einer Tilly von Palmolive in ihren besten Tagen. Für einen Moment dachte ich, sie sagt gleich: „Wenn Sie das Familien-Impfstoffpaket jetzt bestellen möchten, wählen Sie bitte die eins.“

Ich habe die paar Minuten intellektuelle Auszeit dazu genutzt, mich gedanklich (und unter Zuhilfenahme der Technik) noch einmal Lothar Wielers einleitenden Worten zuzuwenden. Zunächst sah ja alles ganz rosig aus: „Wir sind auf einem guten Weg, und wir müssen diesen Weg weiter konsequent bestreiten“, konnte man ihn da sagen hören. Abgesehen davon, dass die Schande der Todesfallzahlen in den Alten- und Pflegeheimen, der Wieler lediglich einen leisen Nebensatz widmete, wohl kaum als Beispiel dafür dienen sollte, wie man einen Weg konsequent weiter bestreitet, kam er gleich danach mit der fast schon erwartbaren Einschränkung um die Ecke: „Wir sehen aber, dass die Inzidenz eigentlich nur in den vier am stärksten betroffenen Bundesländern zurückgeht. Das ist Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen. In den anderen zwölf Bundesländern ist sie in den letzten sieben Tagen nahezu gleichgeblieben.“ In diesem Moment zuckte kurz eine dieser in so ziemlich allen Medien ständig präsentierten, apokalyptisch eingefärbten Deutschlandkarten durch mein Kurzzeitgedächtnis, auf denen man ablesen kann, um welche Ecke Deutschlands es zurzeit besonders schlimm steht. Und irgendwie meinte mein Hirn sich daran zu erinnern, dass es in den letzten Tagen so ziemlich überall wieder heller geworden war – von Sylt bis Garmisch, von Spiegel bis Süddeutsche. Für Lothar Wieler indes kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen oder gar zum Jubel gen Himmel zu strecken: „Es infizieren sich also insgesamt immer noch zu viele Menschen“ – hier macht er eine kurze Sprechpause, ob nun aufgrund des dramatischen Effekts oder weil er den Namen von dem vermaledeiten Virus nach einem Jahr immer noch vom Blatt ablesen muss – „mit SARS-CoV2.“

Wir erinnern uns: der „harte Lockdown“ wurde das letzte Mal am 22.12.2020 ausgerufen, das ist jetzt fünfeinhalb Wochen her. Wieler will uns also sinngemäß sagen: in zwölf Bundesländern zeigt selbst der harte Lockdown kaum eine Wirkung – außer dass wir uns damit vielleicht die anhand der Modellrechnungen des Max-Planck-Instituts vorgezeichneten Horrorszenarien vom Hals gehalten haben – und in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben sie offensichtlich die Kurve gekriegt und befolgen nun auch die Hygienevorschriften der großen Kanalisa… ähm, Koalition.

So einfach ist es allerdings keineswegs. Das RKI gibt täglich die Fallzahlen für jedes Bundesland bekannt, dazu die 7-Tage-Inzidenzwerte und die Todesfälle. Wenn man sich jetzt die Wayback Machine zunutze macht und ein wenig in die Vergangenheit blickt – sagen wir zwei Wochen – dann zeigt sich ein überraschend anderes Bild als das von Herrn Wieler präsentierte: zunächst wird ganz gentlemanlike unterschlagen, dass acht Bundesländer zum ersten Mal seit Monaten auf eine Inzidenz von unter einhundert gerutscht sind, sechs davon erst in der vergangenen Woche. Dieser Effekt ist in Bayern und Berlin am stärksten: Bayern fällt von 156 am 15.01. auf 96 am heutigen 29.01., Berlin fällt im gleichen Zeitraum sogar von 166 auf 85 – ein Minus von 49 Prozent! Tatsächlich nicht der Rede wert war der Rückgang in Bremen (von 79 auf 74), in Niedersachsen (von 93 auf 72) und in Schleswig-Holstein – hier blieb die Inzidenz fast konstant bei 90. Dabei ist der Zeitraum von zwei Wochen als Maßzahl keinesfalls willkürlich gewählt: drei der vier von Wieler genannten „Vorzeige-Bundesländer“ hatten in der Zeit von Anfang bis Mitte Januar noch Anstiege der Inzidenzen zu verzeichnen – lediglich in Sachsen sanken die Zahlen den ganzen Januar über.

Geht man nun explizit auf die von Wieler genannten sieben Tage vom 22.01. bis 29.01. ein, so stellt man folgerichtig fest: in den sechs Bundesländern, die vor einer Woche noch dreistellige Inzidenzzahlen hatten (Bayern, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) sanken die Werte bis heute um durchschnittlich 17 Prozent. Das ist sicher nichts Weltbewegendes, allerdings ebenso gänzlich verschieden von „nahezu gleichgeblieben“. Ob der Wieler wohl einverstanden wäre, wenn man ihm sein Gehalt um 17 Prozent kürzt und als Erklärung trocken zum Ausdruck bringt: „Nun hab dich mal nicht so, ist doch nahezu gleichgeblieben.“ Für die Jungs und Mädels vom Tagesspiegel ist Wieler sein Geld auf jeden Fall wert, hier wird noch nicht einmal hinterfragt, was der Mann so von sich gibt: „Sieben-Tage-Inzidenz sinkt bisher nur in vier Bundesländern“ heißt es da in der Titelzeile des Artikels über Wielers Rechenkünste auf der Bundespressekonferenz.

Ich weiß nicht, worüber ich mehr den Kopf schütteln soll – darüber, dass Herr Wieler offensichtlich nicht weiß, wovon er da redet (vielleicht erzählen die ihm auch einfach nicht alles …), oder darüber, dass es solche offensichtlichen Falschinformationen auf die digitale Titelseite schaffen. Nun, sollte mich das Darüber-Nachgrübeln noch nicht müde genug gemacht haben, gönne ich mir einfach eine Portion Marylyn Addo – hab‘ mir schon eine YouTube-Playlist erstellt.

Nachtrag: keine Stunde nach der ersten Sichtung des Artikels auf Tagesspiegel-Online ist er von der Startseite verschwunden. Ob da doch mal jemand nachgerechnet hat?


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Aaron Clark lebt in Berlin, schreibt unter Pseudonym und ist seit 2020 begeisterter Leser von reitschuster.de. (Das ist kein Eigenlob, genau diese Worte hat er mir als Autorenzeile übermittelt).
Bild: Boris Reitschuster
Text: Gast

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