Mathematik ohne Rechnen Wie Niedersachsen Grundschulwissen entkernt

Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

Politiker mögen die Mathematik in der Regel nicht, weil sie erstens ohnehin nichts davon verstehen und weil sie zweitens nur allzu häufig mit klaren Ergebnissen verbunden ist, die man nur schwer unter einem Wortschwall begraben kann, es sei denn, man spricht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder lässt sich von der Süddeutschen Zeitung interviewen.

Umso wichtiger ist es, die Zahl der Rechenkundigen – von Mathematikkundigen will ich gar nicht erst reden – im überschaubaren Rahmen zu halten, indem man die Schüler schon im zarten Grundschulalter von mathematischen Überforderungen fernhält. Da nun aber die Schulen und ihre Lerninhalte Ländersache sind, kann sich unser mittlerweise im In- wie im Ausland scheiternder Bundeskanzler nicht selbst darum kümmern, sondern muss sich auf die Zuarbeit der Landesregierungen verlassen. Und das nicht ohne Erfolg, zumindest das Land Niedersachsen zeigt der gesamten Republik neue Wege zu einem verantwortlichen und verantwortbaren Mathematikunterricht.

Wie man auf der Seite „News4teachers“ erfahren kann, hat man in diesem fortschrittlichen Land ein Zeichen gesetzt und sich im Rahmen eines neuen Kerncurriculums für die Grundschule auf Prioritäten anderer Art konzentriert. Insbesondere das Rechnen hat man ins Auge gefasst und dabei Bahnbrechendes beschlossen: Um Kompetenzentwicklung soll es gehen und nicht mehr nur ums Rechnen. „Der Erwerb mathematischer Kompetenzen ist eng verbunden mit übergreifenden Zielen zur Entwicklung der Persönlichkeit und des sozialen Lernens wie der Kooperationsfähigkeit, der Fähigkeit zur Organisation des eigenen Lernens und der Bereitschaft, die eigenen Fähigkeiten verantwortungsvoll einzusetzen.“ Ich gebe gern zu, dass der Umgang mit Mathematik auch einen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit hat, wie ihn übrigens der vertiefte Umgang mit jeder Materie aufweisen kann, aber soziales Lernen und Kooperationsfähigkeit wird man eher selten damit verbinden können. Oder soll es nur noch darum gehen, im Stuhlkreis darüber zu diskutieren, was wohl bei der Multiplikation 13*17 herauskommen mag? Es ist auch nicht unmittelbar klar, was der Mathematikunterricht damit zu tun haben könnte, „die eigenen Fähigkeiten verantwortungsvoll einzusetzen“. Darf man im Sinne des Curriculums das korrekte Ergebnis – für den Fall, dass Politiker oder Spiegel-Journalisten mitlesen: es lautet hier 221 – nicht mehr verkünden, weil sich ein Mitschüler von der Härte des eindeutigen Resultats verletzt fühlen könnte? Wir wissen es nicht.

Was wir aber wissen, ist, dass der Mathematikunterricht an den Grundschulen Niedersachsens dafür Sorge tragen muss, dass„mathematisches Wissen flexibel und mit Einsicht in vielfältigen kontextbezogenen Situationen angewendet werden kann“, denn: „Ein Abrufen automatisierter Ergebnisse und die Ausführung vorgegebener Verfahren“ sei dafür nicht ausreichend. Mathematisches Wissen muss man aber wie jedes andere Wissen erst einmal erwerben, bevor man es anwenden kann, sei es nun in vielfältigen oder in eher einfältigen Situationen, und dazu sollte man über die gängigen Rechenverfahren nicht nur informiert sein, sondern auch mit ihnen umgehen können. Will man beispielsweise die Fläche eines rechteckigen Grundstücks bestimmen, so muss man erstens wissen, wie man das grundsätzlich macht, und zweitens in der Lage sein, eine Rechnung wie 13*17 auch unfallfrei durchzuführen. Man muss also genau das können, was man in Niedersachsen als zweitrangig ansieht, sonst ist das Betrachten von „vielfältigen kontextbezogenen Situationen“ völlig hoffnungslos.

Um nun die schöne neue Welt der Grundschulmathematik den modernen Bedürfnissen anzupassen, hat man sich in Niedersachsen etwas ganz Besonderes ausgedacht, wie News4teachers unter Verweis auf die Nordwest-Zeitung berichtet: Sowohl das schriftliche Dividieren als auch das Rechnen mit Kommazahlen soll aus den Klassenzimmern verbannt werden, wobei man die Kommazahlen immerhin noch im Zusammenhang mit Geldbeträgen, mit Euro und Cent, zulassen will. Und warum? Weil das schriftliche Dividieren „das komplexeste der schriftlichen Rechenverfahren“ ist, denn es erfordert „das Zusammenspiel mehrerer Schritte – Teilen, Multiplizieren und Subtrahieren“, und das macht es besonders fehleranfällig. So etwas hat sich wohl jemand ausgedacht, dessen mathematische Karriere in der Grundschule spätestens beim ganzzahligen Multiplizieren beendet war. Gerade weil das schriftliche Dividieren im Grundschulalter eine einigermaßen komplexe Angelegenheit ist, wäre es angebracht, es langsam und Schritt für Schritt einzuführen, zu erklären und vor allem immer wieder üben zu lassen. Gerade weil es fehleranfällig ist, muss man verstehen, wie es funktioniert, und es anwenden – aber nicht in albernen, zusammenkonstruierten und angeblich praktischen Anwendungsbeispielen, sondern wodurch? Das schriftliche Dividieren lernt man durch schriftliches Dividieren. Genau deshalb muss es aber nach niedersächsischer Logik aus dem mathematischen Kanon verschwinden. Im Deutschunterricht könnte man dann auch, wenn man schon dabei ist, die Silbentrennung oder die Groß- und Kleinschreibung streichen, die ebenfalls ihre Tücken haben und fehleranfällig sind, und da man das schöne Prinzip des Problemlösens durch Problemignorieren nicht auf Grundschüler beschränken muss, wäre es doch keine schlechte Idee, Fahrschülern in Zukunft die Prozedur des rückwärts Einparkens zu ersparen.

Doch mit solchen Kleinigkeiten hält man sich in progressiven Ländern wie Niedersachsen nicht auf. Muss ich erwähnen, dass die für die Schulen verantwortliche Ministerin mit dem klingenden Namen Julia Willie Hamburg der Partei des infantilen Totalitarismus, die man auch die Grünen nennt, entstammt und auf ein Studium der Politikwissenschaft, Deutschen Philologie und Philosophie verweisen darf, das sie aber bedauerlicherweise nicht abgeschlossen hat? Bei solchen Ministern wundert nichts mehr.

Da ist es auch nicht überraschend, dass Grundschüler, wie News4teachers berichtet, nach dem neuen Curriculum die Division vor allem als Aufteilen und Verteilen verstehen und den Zusammenhang mit der Multiplikation begreifen sollen. Ja, so kann man anfangen, indem man beispielweise eine Menge von zwölf Äpfeln auf eine Gruppe von sechs Schülern verteilt und somit eine anschauliche Grundlage schafft. Doch dann muss man lernen, wie man das mit konkreten Zahlen macht, und darf nicht beim Prinzip des Aufteilens und Verteilens stehen bleiben – oder sollen die Kinder schon in der Grundschule lernen, dass Umverteilung das Schönste und Wichtigste auf der Welt ist? Man darf nicht vergessen: Die Ministerin ist eine Grüne.

Der curriculare Wahnsinn hat jedoch noch kein Ende. Zum Thema der „basalen mathematischen Kompetenzen“ lernen wir: „Für das Fach Mathematik ist die Verfügbarkeit von Verstehensgrundlagen und Grundfertigkeiten für ein verständiges und nachhaltiges Weiterlernen von besonderer Bedeutung.“ Sicher, und die Basis ist die Grundlage des Fundaments. Wie sollen die Schüler denn über Grundfertigkeiten verfügen, wenn man sie ihnen laut regierungsamtlicher Anordnung nicht beibringen darf? Dass die „Lernenden“ die „vier Grundrechenarten mit (Alltags)-Bedeutungen“ verknüpfen, ist schön und gut; das machen sie aber ohnehin, denn aus solchen Alltagsbedeutungen sind die Grundrechenarten entstanden. Man erhält kein „tragfähiges Operationsverständnis“, indem man „vielfältige Vorstellungen zu den Operationen“ aufbaut und Darstellungen miteinander vernetzt. Das ist im günstigsten Fall sinnloses Gerede und im ungünstigeren – und damit wahrscheinlicheren – Fall nichts weiter als eine gründliche Verwirrung der Schüler, die irgendetwas vernetzen sollen, was sie noch gar nicht richtig verstanden haben, weil es ihnen keiner wirklich beigebracht hat.

Die überaus hohe Komplexität des schriftlichen Dividierens will man den Kindern nicht mehr zumuten, und ähnlich sieht es mit Kommazahlen wie 2,17 aus. Auch die ist nach Auffassung des Kultusministeriums für Grundschüler „von hoher Komplexität“, und man fragt sich, wie die Kinder früherer Generationen die Zumutung der Kommazahlen ohne schwerste Traumata überlebt haben. Wer jeden leisen Hauch von Komplexität aus der Schule entfernen will, kann die Schule gleich abschaffen, denn die dient unter anderem dazu, den Umgang mit etwa komplizierteren Gebieten zu lernen und einzuüben.

Unter Grünen sieht man das anders. Das „systematische Durchdringen der Stellenwerte“, so heißt es, bedürfe „einer guten Vorbereitung und schrittweisen Einführung.“ Wie man Stellenwerte systematisch durchdringen soll, ist mir nicht ganz klar geworden, dass aber ein für die Schüler neues Stoffgebiet einer guten Vorbereitung und schrittweisen Einführung bedarf, ist keine außergewöhnlich neue Erkenntnis. Man könnte sie in den Schulen in die Tat umsetzen, indem man den Kindern beispielsweise anhand der Aufteilung des Euros erklärt, worum es geht, und sich dann zu Kommazahlen im Allgemeinen aufmacht, damit sie das Prinzip verstehen und auch rechnerisch damit umgehen können. Aber weit gefehlt, so macht man das heute nicht mehr. Nur dort soll die Kommaschreibweise attackiert werden, „wo sie im Alltag für Kinder eine unmittelbare Bedeutung besitzt, beispielsweise beim Umgang mit Geld.“ Weiter darf man in den Grundschulen nicht mehr gehen, denn „die verschiedenen Größenbereiche Geld, Längen, Gewichte weisen dabei trotz ihrer gemeinsamen dekadischen Logik in ihrer Bündelungsstruktur und Einheitenbenennung erhebliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede erschweren Schülerinnen und Schülern das Verständnis und die sichere Umwandlung von Größenangaben in unterschiedliche Schreibweisen.“

Sind das nicht schöne Formulierungen? Nein, das ist nur hochtrabendes Geschwätz, eines Kultusministeriums unserer Tage würdig. Gerade weil es in der praktischen Anwendung der Kommazahlen Unterschiede gibt – wenn auch sicher keine erheblichen – ist es im Mathematikunterricht nötig, die praktischen Beispiele irgendwann hinter sich zu lassen und zur Mathematik überzugehen, ganz ohne „Bündelungsstruktur und Einheitenbenennung“, was immer die Ministerialen auch unter einer Bündelungsstruktur verstehen mögen. Es gilt immer und unter allen Umständen die Gleichung 1,27 + 2,39 = 3,66. Hat man das begriffen, dann weiß man auch, dass 1,27€ + 2,39€ = 3,66€ ist, genau wie 1,27 Meter + 2,39 Meter eben 3,66 Meter ergeben. Das Problem der „erheblichen Unterschiede“ löst man, indem man das überall Gemeinsame herausstellt, nämlich die Mathematik der Kommazahlen, an der die Schüler sehen können, dass die Unterschiede nur scheinbare sind. Und „die sichere Umwandlung von Größenangaben in unterschiedliche Schreibweisen“ lernen sie, indem sie mit den geheimnisvollen Kommazahlen umzugehen lernen. Die Erschwernis für die Schüler liegt nicht in diesen Kommazahlen, sondern im leeren Gerede des Curriculums.

„Die Klugheit des Fuchses besteht zu fünfzig Prozent in der Dummheit der Hühner“, schrieb der spanische Schriftsteller José Ortega y Gasset. Geistesgrößen wie die Autoren des Kerncurriculums, aber auch und gerade unsere Politiker halten sich für ganz besonders kluge Füchse. Und damit sich daran auch nichts ändert, müssen sie die Hühner in Dummheit halten.

Die Kinder können sich dagegen nicht wehren. Wir schon.

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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Screenshot Youtube

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